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Aus: Ausgabe vom 10.10.2012, Seite 13 / Feuilleton

Gefühlte Zeiten

Von Wiglaf Droste
Man habe ihn »aus gefühlten zehn Zentimetern angeschossen«, beteuerte ein Fußballspieler, dem ein Ball aus einem Meter Entfernung gegen den Ellenbogen flog; einem seiner Kollegen wurde von einem Journalisten später sogar eine »gefühlte Unsportlichkeit« unterstellt. Daß manche unbeglückte Frau von »gefühlten zehn Zentimetern« ein traurig’ Lied zu singen weiß, liegt bedauerlicherweise im Bereich des Wahrscheinlichen; was aber soll eine »gefühlte Unsportlichkeit« sein, wenn nicht das unfreiwillige Eingeständnis eines Journalisten, daß er ein Rhabarbermann ist, ein Schwätzer, der bloß der ältesten Regel seines Berufs folgt: Man weiß es nicht, man munkelt’s nur.

Gefühlt wird egalweg alles; Rezensenten beschweren sich über die »gefühlte Ewigkeit«, die sie über der Lektüre eines Romans zubrachten; das sagt möglicherweise etwas über den Rezensenten, aber auch bloß dann, wenn man ihn kennte, und wer kennt schon freiwillig Rezensenten? Temperaturen werden seit vielen Jahren ohnehin nicht mehr gemessen, sondern gefühlt, und Theateraufführungen dauern, wenn man denen, die darüber schreiben, Glauben schenken will, im Schnitt »gefühlte fünf Stunden«. Gefühlt heißt in solchen Fällen aber nicht erlebt und empfunden, sondern bloß, daß man nichts zu sagen weiß, nicht mal das Einfachste.

In der gefühlten Welt wußte die FAZ sogar von einer »gefühlten Rückkehr in den alten, ungemütlichen Ostblock« zu raunen. Ob bei solch gefühlter Rückkehr unsere Heimatvertriebenen noch mal so richtig aus dem Sulky kommen? Von mir aus, höre ich mich grollen, sollen sie doch alle fühlen, was sie wollen und sich dann bitte trollen und abrollen, nur hätte man ja manchmal auch noch gern so etwas wie eine klitzekleine Information. Dauert der neue Film mit Gérard Dépardieu tatsächlich länger als vier Stunden, oder hat bloß jemand 100 Minuten ganz schwer und wichtig öffentlich verzweieinhalbfacht, um seinen – übrigens längst ausgelatschten – Markenabdruck als gefühlter Feuilletonist zu hinterlassen? Wer Auskunft über die von ihm »gefühlte Zeit« gibt, fühlt dabei zwar den Coolness-Faktor tausend, der aber nur dem eines lausigen »Wie geil ist das denn!«-Sagers entspricht.


Daß man im Restaurant bislang noch keine gefühlten Auberginen bestellen kann, trifft unsere Gefühlskulturmenschen sicherlich hart. Wenn sie aber einmal eine Auskunft über die Länge einer Veranstaltung geben und nicht nur ihre höchst uninteressante Befindlichkeit auspetern wollten, hätte ich einen kleinen Rat parat: Einfach am Anfang und am Ende auf die Uhr schauen. Das geht so leicht, das schafft sogar ein Journalist, und bei der Wahrheitsfindung hilft es ungemein.

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