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Aus: Ausgabe vom 13.04.2024, Seite 12 / Thema
Biographie

Dusty Dorsch in Mexiko

Vorabdruck. Eine programmatische Reise nach Mittelamerika Anfang 1986. Das Leben des Wiglaf Droste
Von Christof Meueler
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Wer hätte sich Wiglaf Droste als einen vorgestellt, der mit den Wellen kämpft? (Pazifikküste in Mexiko)

In der kommenden Woche erscheint im Berliner Verlag Edition Tiamat die von Christof Meueler verfasste Biographie: »Die Welt in Schach halten. Das Leben des Wiglaf Droste«. Droste, der am 15. Mai 2019 im Alter von 57 Jahren verstarb, war als jW-»Hausdichter« vom Dezember 2010 bis zu seinem Tod in jeder Ausgabe der jW mit einem Beitrag präsent. Wir dokumentieren aus dem Buch mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag das Kapitel »Dusty Dorsch in Mexiko«. (jW)

Am Neujahrstag 1986 war Wiglaf in Mexiko am Meer. Die Wellen waren sehr hoch. Barbara Zuber wollte nicht ins Wasser, aber Wiglaf stürzte sich rein und kämpfte viele Stunden mit dem Atlantik. Er war ausgebildeter Rettungsschwimmer. Der Ozean machte ihm keine Angst.

Sie zelteten am Strand, etwas außerhalb von Veracruz. Silvester hatten sie sich im Hafen der Stadt das Feuerwerk angesehen, das von Kriegsschiffen aus gezündet wurde. Gestartet waren sie in Mexiko-Stadt, wo Barbara an der Deutschen Schule Englisch unterrichtete. Sie fuhren übers Land in Barbaras uraltem grünem Käfer. Sie musste steuern, Wiglaf hatte seinen Führerschein in Bielefeld verloren, weil er betrunken auf dem Fahrrad erwischt worden war. Danach wollte er keinen neuen mehr. Robi Mönnich meint, er sei ein sehr schlechter ­Autofahrer gewesen. Vielleicht hatte er auch keine Lust, den sogenannten Idiotentest zu machen.

In Mexiko-Stadt war Wiglaf am 29. Dezember eingetroffen. Vorher hatte er sich eine halbe Woche in Havanna aufgehalten. Losgeflogen war er von Ostberlin am 24. Dezember. Als Erwachsener hatte er Weihnachten nie sonderlich gemocht. Da ging er lieber ins Kino und fuhr nicht wie die meisten Zugezogenen in die westdeutsche Provinz zurück zu den Familien, denen sie entrinnen wollten. »Was mich von anderen unterscheidet, ist die Geschwindigkeit, Erfahrungen zu machen – nicht bloß oberflächliche, sondern echte«, schrieb Wiglaf in Mexiko in sein Notizbuch. Das liege an seiner Fähigkeit, »schnell zu durchschauen, was passiert, zu begreifen, zu verstehen«. Dabei sei eine »Mischung aus Lust an Überraschungen und einer tiefen Skepsis, dass es wirklich Neues kaum gibt« hilfreich, glaubte er. Neu war für ihn auf jeden Fall der Flug nach Lateinamerika: Es war der erste Flug seines Lebens.

Aus Westberlin war er kurzentschlossen aufgebrochen, Barbara zu besuchen. Der einzige Flug, den er noch kriegen konnte, ging Heiligabend über Havanna – mit einem mehrtägigen Zwischenstopp. Als er dann im Flugzeug saß, hörte er hinter sich eine Stimme: »Klar treff ick da Ballina, auf Kuhbah. Jede Wette. Bestimmt sogah aus Kreuzberch. Hähä.« Er drehte sich um und sah einen kleinen Mann Mitte 30, der auf seinen Nebenmann einquasselte, sich die Schuhe auszog und »mit den Zehen Klavier spielte«. Gegenüber machte ein heterosexuelles »Klebstoffpärchen« aneinander rum, den ganzen Flug über, wie sich dann herausstellte. Und zwei Reihen vor ihm baggerte ein »smarter Schnäuzerträger mit Halblangfrisur und Freizeitanimationskleidung« eine »kompakt gebaute Blondine in Blau-Lila an«. Ob sie auch aus Berlin …? »Großartich«! Und dann rief der kleine Mann hinter Wiglaf: »Übrijens – Vorsicht. Ick furz jetzt.«

Dies war Berlins »alternative Szene« auf dem Weg nach Kuba, Wiglaf mittendrin. Und alle diese mehr oder weniger trüben Tassen lasen die Taz, wie er bemerkte. Das war die etwas wacklige Pointe seines Berichts über diesen 13-Stunden-Flug, den er natürlich in der Taz veröffentlichte und der auch in seinem ersten Buch »Kommunikaze« zu finden ist, das dann 1989 im kleinen Berliner Verlag a-verbal erschien, wo auch Max Goldt schon zwei Bücher gemacht hatte. Und für diese merkwürdigen Passagiere hatte er im letzten halben Jahr an die 30 Artikel geschrieben?

»Täglich eine linke, radikale Zeitung«, so warb damals die Taz. Zufriedensein mit dem eigenen Linkssein, so etwas fand Wiglaf zeitlebens ekelhaft, aber trotzdem war es irgendwie doch auch seine Szene. »Und wenn sie noch so stinke, es lebe die Linke!« hatte er in sein Notizbuch geschrieben. Ein ironischer Reim, aber durchaus ernst gemeint. Leute wie die im Flugzeug zu beobachten, zu belauschen und zu beschreiben, wurde in den 90er Jahren eine seiner bevorzugten Techniken, um zu zeigen, wie merkwürdig manche Menschen ticken. Am liebsten vom Nebentisch aus, im ICE-Bordrestaurant und oft auch im Café. In seiner Passagierbetrachtung wandte er noch ein Stilmittel an, das er später immer wieder benutzte: das Zitieren von Berlinern in Berlinisch, ebenso fasziniert wie abgestoßen, in aufrichtiger Hassliebe aufgeschrieben.

»Berliner zu sein ist eine Berufung«, formuliert er an anderer Stelle in »Kommunikaze«. Egal ob Proll oder Freak, einerlei, ob da geboren oder zugezogen, allen Berlinern sei eine »gußeiserne, verbissene Fröhlichkeit« gemein, »dieses Wir-sitzen-alle-im-selben-Rosinen­bomber-Gequalle, das einem diese Stadt manchmal verleidet«.

Das schönste Weihnachtsfest

Aber jetzt ging es nach Havanna, das war etwas anderes. Nach der Landung stellte sich bei der Passkontrolle heraus, dass das Billighotel, wo er absteigen sollte, geschlossen war. Ersatzweise wurde er im »Habana Libre« untergebracht, dem ersten Hotel am Platz, ohne Aufpreis. Eine sehr schöne Notlösung. Vor der Revolution war das »Habana Libre« das Hilton und anschließend dann das Hauptquartier der Revolutionäre, die es symbolträchtig umbenannt hatten. An Heiligabend stand Wiglaf nun auf dem Balkon seines Zimmers mit einem »köstlichen, gut gekühlten kubanischen Bier und schaute über Havanna, die Stadt der Träume von einem besseren, gerechteren und schöneren Leben«, wie er später in einem Artikel für die junge Welt schrieb.

In derselben Zeitung bekannte er 2016 nach dem Tod von Fidel Castro, dieser sei für ihn der bedeutendste Staatsmann des 20. Jahrhunderts gewesen, neben Winston Churchill, denn Castro »bereicherte die Welt und nicht, wie sonst üblich, sich selbst«. Seinen damaligen Kurzaufenthalt in Havanna bezeichnete er als »schönstes Weihnachtsfest meines Lebens«.

Er lief durch die Altstadt und besuchte die berühmten Bars, in die auch schon Hemingway gerne gegangen war, trank zum ersten Mal Daiquiris und Mojitos. In der Bar »Bodeguita del medio« schauten ihn schöne Frauen an, besonders eine, dabei wurde er »rot wie ein Fliewatüüt«. Er meinte damit dieses geniale Fahrzeug, das Fliegen, Schwimmen und Fahren konnte, aus dem Kinderbuch »Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt« von Boy Lornsen. Mit dem Fliewatüüt konnte man viele Abenteuer erleben. Das Buchcover von 1967 leuchtete in der Signalfarbe Rot. Dem Wiglaf von 1985 war weniger abenteuerlich zumute: »Ich war ein Leichtgewicht mit dusseligem Zeug im Kopf«, stellte er rückblickend fest. Als die Frau, die ihn so lange angeschaut hatte, beim Rausgehen vor ihm stehen blieb und ihm sanft über die Wange strich, wäre er fast in Ohnmacht gefallen: »Ich stand da mit leerem Kopf, übervollem Herzen und zitternden Beinen.«

Er war tatsächlich sehr dünn und hatte lange lockige Haare, wie sich Barbara Zuber erinnert: »Wiglaf war schmal wie ein Hemd und sah aus wie Jesus.« Er legte erst in den nächsten zehn Jahren an Statur zu, wurde breiter und kräftiger. Das gefiel ihm, weil er sich dann nicht mehr so angreifbar fühlte, wie er Barbara in Berlin erzählte, als sie nicht mehr zusammen waren, sich aber ab und zu noch trafen.

In Mexiko hatte er genug Zeit, um über sich nachzudenken. Nach seiner Ankunft waren sie sechs Tage über Land gefahren – Tolantongo, Villa Ávila Camacho, Veracruz, Orizaba – und dann nach Mexiko-Stadt zurückgekehrt. Barbara musste tagsüber unterrichten, und Wiglaf lag zu Hause auf der sonnigen Terrasse und las. Über seine Lektüre führte er in seinem Notizbuch Listen, die er abhakte, wenn er mit einem Buch fertig war: Ross Macdonald, Joseph ­Conrad, Elfriede Jelinek (»Die Ausgesperrten«), Mark Twain (»Huckleberry Finns Abenteuer«), Karl Valentin (»Die Jugendstreiche des ­Knaben Karl«), Eckhard Henscheid (»Helmut Kohl. Biographie einer Jugend«) und Kurt Tucholsky (Gesammelte Werke Band 4–8).

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Der junge Wiglaf Droste (1961–2019) bei einem Auftritt mit der Bolschewistischen Kurkapelle (Berlin, 25.1.1995)

Leichtmatrose, Schwerenöter ...

In Mexiko-Stadt hatte er »Selbstvergessenheit und Muße genug, die Gedanken einfach kommen zu lassen«, wie er für sich notierte, »weil ich in den letzten Monaten versäumt habe, mir eben dies zuzugestehen«. Seit einem halben Jahr war er ein Autor, der vom Schreiben lebte, besser gesagt: einer, der vom Schreiben leben wollte. Mit Artikeln für die Taz und das Spandauer Volksblatt, in der Zitty war einmal ein Gedicht von ihm erschienen. Vorher hatte er als »Aufräumer« auf der Baustelle gearbeitet. Den Dreck wegmachen, den die Handwerker im Neubau hinterlassen, wenn sie fertig sind: Späne, Hölzer, Glaswolle und das ganze Zeug, das übrigbleibt. Einmal kam der Chef der Firma auf die Baustelle. Er wusste seinen Namen nicht mehr richtig und begrüßte ihn mit »Guten Morgen, Herr … äh Dorsch«. Der Name gefiel Wiglaf. Deshalb schrieb er vorne auf die Kladde, in die er seine Mexiko-Notizen eintrug: »No signs of intelligent life on the Planet. Beam us up, Scottie! Die (z)weite Reise des Dusty Dorsch.«

Auf der ersten Seite stand, wie er sich selbst sah: »Dorsch, Dusty. Leichtmatrose, Schwerenöter, Drachentöter.« Wenn ihm eine fremde schöne Frau über die Wange strich, kippte er beinah um, aber trotzdem! Er war einer, der mit dem Atlantik kämpft. Oder der durch einen Wasserfall in das Innere eines Bergs tritt. Als er mit Barbara an einem See in Tolantongo war, schwamm er in eine Höhle, indem er unter einem Wasserfall hindurchtauchte. Hinein in eine Grotte, in der sich gerade ein paar Höhlenforscher anschickten, ausgerüstet mit Helmen, Lampen und Stiefel, tiefer in den Berg einzudringen. Wiglaf hatte nur eine Badehose an und folgte ihnen spontan, ohne dass sie etwas bemerkten. Doch dann wurde ihm unheimlich zumute, und er kehrte um, nun in völliger Dunkelheit. Obwohl der Weg nach draußen nur ein kurzes Stück war, kam es ihm sehr lang und gefährlich vor. Als er wieder durch den Wasserfall glücklich ins Freie schwamm und aus dem See stieg, haute ihm Barbara als erstes eine runter – ob er noch ganz bei Trost sei?

Eine gute Frage. Dennoch fand er es toll, mit Barbara im Käfer durchs Land zu reisen, am Wochenende, wenn sie dafür Zeit hatte. Sie fuhren nach Chiapas, badeten im Pazifik, während die Pelikane über ihre Köpfe flogen, und aßen mit Mexikanern Ziege, die in einem Erdloch über Stunden gegart wurde. Das war alles sehr beeindruckend. Einem Freund in Berlin schrieb er in einem Brief: »UNTERWEGSSEIN ist sowieso das Geilste, du sitzt in der Kiste, die Straße rollt unter dir weg, selbstverständliche Bewegung, ohne Anstrengung, kein Stillstand, die Gedanken fließen von ganz allein.« Das klang ein bisschen nach »On the Road« von Jack Kerouac, wo Dean Moriarty immer wieder ausruft: »Schaff dich!«

Das könnte auch zu Wiglafs Motto geworden sein, als er später als lesender und singender Vortragskünstler unterwegs war. Doch schon in ­Mexiko tauchten bei ihm immer wieder Selbstzweifel auf: »Ich bin kein heller Bursche. Wenn ich mich anstrenge, schaffe ich gerade so ein mittelweiches Kaff wie Bielefeld oder eine Waschlappenstadt wie Berlin«, schrieb er in die Kladde.

Mexiko war nicht teuer, weil es kein reiches Land war. »Mexiko: Armut. Die ganze Welt ist ein Haufen Scheißdreck + ich habe dem nicht mehr entgegenzusetzen als ein Viertelpfund Gehirn«, notierte Wiglaf, nachdem er 14 Tage im Land war. »Meine Menschwerdung hat mich daran gewöhnt. Die Reichen, die Armen, die so tun, als seien sie die Reichen. Die dazwischen alle? Aber die Armen? Wen soll ich dafür hassen, dass es sie gibt?« Doch am 15. Tag schlug die Stimmung um, und er freute sich über seine neuen Cowboystiefel aus Eselsleder, die er sich extra hatte anfertigen lassen: »Fühle mich besser als Eastwood je träumen konnte«, schrieb er einem Freund, »einfach toll, du stehst ganz anders im Leben mit den Dingern und das, nachdem ich wochenlang in Berlin nach Schuhen suchte und nur Scheiße fand«. Dusty Dorsch war glücklich, zumindest darüber.

Ein wandelndes Marlowe-Zitat

Aber wie sollte es mit ihm weitergehen, wenn er in den neuen Stiefeln wieder in Berlin sein würde? Er war 24 und wollte ein freier Mann sein. Nach der Lektüre der Raymond-Chandler-Biographie von Frank MacShane empfand er zwar eine gewisse Tröstlichkeit, dass darin vieles steht, »das auch über mich oder Millionen anderer hätte gesagt werden können«, wie er in seine Kladde schrieb, aber auf der Suche nach einem Identifikationsmodell wurde er in ­Chandlers »The Long Good-Bye« fündig. Aber erst viel später, nämlich 2009, in einer Hommage zum 50. Todestag Chandlers, zählte Wiglaf im Tagesspiegel die Eigenschaften auf, die er in der Figur Philip Marlowe fand und die Wiglaf unabdingbar für einen freien Mann schienen: »Einsicht, Witz, Aggressivität, Melancholie, Weichheit, Müdigkeit und den beharrlichen Willen, sich von den Verhältnissen nicht kriegen zu lassen. Die sind zwar, wie sie sind – aber na und?«

Das war in etwa das, was der angehende Journalist und Schriftsteller Wiglaf Droste anstrebte. Marlowes Auftreten als melancholischer Moralist und Trinker war stilbildend für Wiglaf. Wenn er in der Medienredaktion der Taz persönlich vorbeikam, wirkte er auf die Fernsehredakteurin Renée Zucker wie ein wandelndes Marlowe-Zitat.

Renée Zucker: Wenn Wiglaf ins Zimmer kam, habe ich gedacht, mein Gott, der hat bestimmt zu viele Hard-Boiled-Krimis gelesen. Und jetzt sitzt er nachts vor der Schreibmaschine, rauft sich die Haare und trinkt und raucht. Und trotzdem kam er mir dabei sehr klein vor.

Klaus Nothnagel: Ich vertrat manchmal ­Renée im Büro, wenn sie zum Arzt musste oder ihr Kind aus der Kita abholen. Oft ­saßen wir aber zu dritt bei ihr rum: Renée und ich hackten – vielleicht etwas vorschnell oder oberflächlich – unsere Texte in die Maschine, während Wiglaf für ein Wort 30 Sekunden oder so benötigte. Das war für ihn sehr anstrengend, was man gar nicht denken würde, wenn man die Leichtigkeit seiner Texte bewundert.

Als er schon lange nicht mehr so klein, sondern über 50 war, schrieb er in der NZZ ein Stück über seine Mexiko-Reise 1986. Er sei damals mit Barbara, die er aber nicht bei ihrem Namen nennt, sondern – wie fast alle seine Freundinnen in seinen Texten – nur »meine Süße« (häufig auch »die Liebste«), auf dem Weg nach Chiapas in einer Cantina eingekehrt, in der am Nebentisch vier »mexikanische Banditen« herumlungerten, die dann angefangen hätten, sich darüber zu unterhalten, wie sie erst seine Begleiterin vergewaltigen wollten, um dann ihn umzubringen. Doch »die Süße« hörte alles mit, erzählte es Wiglaf in ruhigem Ton, ging raus und ließ den Motor des Käfers an. Wiglaf bezahlte die Rechnung, einer der »Mordbuben« folgte ihm mit gezücktem Messer, doch Wiglaf drehte sich um, trat ihm in die Weichteile, lief nach draußen, sprang in den Käfer, und sie brausten davon. Durchs geöffnete Beifahrerfenster brüllte ­Wiglaf: »Leichtfüßig ist der schnelle Hirsch!« Den Spruch hatte er bei Karl May gelesen, schrieb er – nur war diese dramatische Episode im Karl-May-Stil frei erfunden.

Barbara Zuber: Wir hatten auf der Fahrt durch Mexiko keine anderen Probleme als eine Reifenpanne. Außerdem war mein Spanisch viel zu schlecht, als dass ich ein Banditengespräch am Nebentisch hätte belauschen können.

15 Gebote für den Kritiker

Um die Sache spannender zu machen, hatte Wiglaf in seinen mexikanischen Erinnerungen den Rückblick etwas übertrieben. Damals in Mexiko wollte er authentisch arbeiten – und entwarf einen Regelkatalog für sein künftiges Schreiben: »15 Gebote für den Kritiker. Nachdruck gestattet erwünscht.« Die ersten drei lauteten: »1. Du sollst nicht jammern. 2. Du sollst nicht feige sein. 3. Du bist nicht der liebe Gott.« Aber warum nicht? »Objektivität gibt es nicht. Erzähle also niemand, dein Urteil sei gerecht. Es mag gerecht sein nach deinen Kriterien – andere haben da andere. Deine lege offen und deutlich auf den Tisch und halte dich an sie – so können sich die Leser an dich halten. Du hast eine Meinung (hast du eine?). Nenne und begründe sie, formuliere sie klar und deutlich. Das genügt.«

Das 15. Gebot war ein Aufruf zur Demut des Kritikers: »Du hast einen Beruf mit Freuden, Sorgen, Langeweile, Herausforderungen, Ärgernissen, Ungerechtigkeiten – er wird dich erkennen, aber da bist du nicht der einzige. Im Zweifelsfall prüfe nach und stelle fest: Dein Arsch hat bloß 2 Hälften.« Dusty Dorsch, der Schwerenöter und Drachentöter, war bereit für größere Aufgaben.

Christof Meueler: Die Welt in Schach halten. Das Leben des Wiglaf Droste. Berlin: Edition Tiamat 2024, 304 Seiten, 30 Euro

Christof Meueler war von 2001 bis 2018 Leiter des Feuilletonressorts der jungen Welt. Er leitet seit 2018 das Feuilleton des nd.

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