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Aus: Ausgabe vom 12.04.2024, Seite 12 / Thema
Marxistische Kulturtheorie

Der Utopist

Dem marxistischen Kulturtheoretiker Fredric Jameson zum Neunzigsten
Von Stefan Ripplinger
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Der Utopist soll ein Gelehrter sein, der die Welt verändern will; die Utopie ist noch nicht das andere, sie sucht nach ihm (Nordostseite des von Walter Womacka entworfenen Mosaikfrieses »Unser Leben« am Haus des Lehrers am Berliner Alexanderplatz)

Fredric Jameson, der am 14. April neunzig wird, gilt, nicht unbedingt in Deutschland, aber doch in der ganzen übrigen Welt, China eingeschlossen, als der größte marxistische Kulturtheoretiker unserer Zeit. Was für eine Lehre er vertritt, hat er am Ende seines Buches »Das politische Unbewusste« (1981) erklärt. Der Marxismus, schreibt er da gegen alle, die in der Gelehrtenstube hocken bleiben, sei Teil einer politischen Praxis.

Weil politische Praxis kulturelle Phänomene nicht nur betrachtet, sondern gebraucht, sei sie zur »gleichzeitigen Anerkennung der ideologischen und utopischen Funktionen eines künstlerischen Textes« gezwungen. Sie darf also nicht beim ideologischen Gehalt eines Textes – ganz gleich, ob hohe Dichtung oder Science-Fiction-Heftchen, ob Filmskript oder Partitur – stehenbleiben, sondern muss auch das würdigen und überhaupt erst bergen, was in ihm auf etwas anderes verweist.

Wie so oft bei Jameson, finden sich hier auf engem Raum Begriffe zusammengepresst, die einer Bestimmung bedürfen: »politische Praxis«, »Funktion«, »ideologisch« und »utopisch«. Doch das unscheinbarste Wort ist zugleich das stärkste: »gleichzeitig«. Die »gleichzeitige Anerkennung« oder auch »Wiedererkennung« (simultaneous recognition) ist eine Kurzformel für Jamesons Methode. Unschwer ist eine Reverenz an die hegelianische Dialektik zu erkennen. Wir müssen zwei sich bestimmt widersprechende Kräfte gleichzeitig in den Blick nehmen, hier die ideologische und die utopische Funktion eines Textes.

Es verbirgt sich in dieser Gleichzeitigkeit aber auch ein Gedanke, der weitaus älter ist als Hegel oder Marx: ein Modell von Bedeutung, das in der vorchristlichen Epoche ein und demselben Text drei Ebenen zuschrieb, in der christlichen aber noch eine vierte hinzugewann, nämlich die Geschichte. Jameson erzählt in seinem gerade erschienenen, von Octavian Esanu vorzüglich edierten Seminar über Theodor W. Adornos »Ästhetische Theorie« (»Mimesis, Expression, Construction«) die Anekdote, Papst Johannes Paul II. habe in seiner Krakówer Zeit vor kommunistischen Funktionären geprahlt, die Christen hätten die Geschichte überhaupt »erfunden«.

Das allgemein »vierfacher Schriftsinn« oder »Quadriga« genannte Modell, das den wörtlichen, den uneigentlichen, den moralischen und den anagogischen Sinn voneinander unterscheidet, erläutert Jameson in seinem Seminar (von 2003) an Thomas Manns »Doktor Faustus«. Dabei besteht der wörtliche Sinn dieses Romans darin, dass die Figur Zeitblom das Leben von Adrian Leverkühn niederschreibt. Der uneigentliche Sinn umfasst das »ganze Drama« der Auseinandersetzung des »Archaischen mit dem Modernen«, aber auch schon das, was bei Adorno »Kulturindustrie« heißt. Die moralische Schicht reflektiert auf das Leben des einzelnen, hier auf eine Existenz im Ersten oder im Zweiten Weltkrieg und indirekt auch auf Manns vorübergehende Sympathie mit dem Bolschewismus.

Die interessanteste Schicht aber ist die »anagogische«, die in der Scholastik die »heilsgeschichtliche« meinte, hier zur »Ebene der Geschichte und des Schicksals des Menschengeschlechts« im allgemeinen, zur Zukunft Deutschlands im besonderen wird.

Die marxistische Anwendung des vierfachen Schriftsinns zieht sich durch das komplette Werk von Jameson. Die Ideologie, schreibt er in »Allegory and Ideology« (2019), verrichtet ihre Arbeit über diese vier Ebenen hinweg, und vermittelt so das Individuelle mit dem Kollektiven (der Klasse). Das ist interessant genug. Interessanter noch ist ein weiteres methodisches Hilfsmittel aus dem Werkzeugkasten Jamesons, das nicht marxistischer Machart ist, aber marxistisch gewendet werden kann: das semiotische Viereck von Algirdas Julien Greimas.

Kant und Kochbuch

In seiner »Strukturalen Semantik« (1966) unterscheidet der aus der russisch-formalistischen Schule kommende Semiotiker Greimas nicht nur einen Wert und seinen Gegen-Wert (A und Anti-A) voneinander, sondern setzt diese beiden überdies von Werten (Non-A und Non-Anti-A) ab, die sich neutral zu ihnen verhalten. Demnach ist beispielsweise »männlich« (A) das Gegenteil von »weiblich« (Anti-A), unterscheidet sich aber zugleich von »nicht-männlich« (Non-A) und, auf besonders interessante Weise, von »nicht-weiblich« (Non-Anti-A). Zu den vielen Anwendungen bei Jameson gehört diese historische: Das Ancien Régime und seine Legitimität (A) stehen gegen die von Napoleon verkörperte Energie (Anti-A), setzt sich aber auch von einer passiven Kultur (Non-A) und von der Bourgeoisie (Non-Anti-A) ab, welche durch Illegitimität, Machtlosigkeit und Sterilität charakterisiert ist.

Greimas’ Schema zieht also der dialektischen Opposition einen grauen Hintergrund ein, vor dem sich die Hauptwidersprüche abheben wie Figuren von ihrem Grund. Damit wird das Bild viel komplexer, weil auch unauffällige Aspekte, ja bloße Virtualität Berücksichtigung finden. Nachvollzogen werden nicht Bedeutungen, sondern wird die »Produktion von Bedeutung«. Bedeutung erweist sich, wie Jameson (in »The Ideologies of Theory«; 2008) schreibt, oft genug als »Verdinglichung oder als täuschendes Nachbild«. Es geht ihm aber darum, wie sie entsteht, es geht ihm um eine »Feldtheorie« der Bedeutung. Eine solche Theorie erlaubt es einerseits, diffuse »Weltanschauungen« auf simple Operationen herunterzubrechen, sie andererseits enorm zu dynamisieren.

Das semiotische Viereck lässt sich überall da anwenden, wo Bedeutung produziert wird: »Auf diese Weise wird Kant zum ersten großen modernen Romancier und selbst das biedere Kochbuch zu einem Ort nicht allein des Geschichtenerzählens, sondern auch der alchemistischen Verwandlung.« Das muss braven Linken die Frage aufdrängen, ob es einem Marxisten überhaupt erlaubt ist, sich bei den Strukturalisten zu bedienen, und Jameson bedient sich ja sogar bei den Poststrukturalisten.

Im Rückblick erklärt er, für ihn und andere sei der Strukturalismus wie ein Weckruf zu einer »Wiederentdeckung des Dialektischen« gewesen (»The Hegel Variations«; 2010). Die für den Strukturalismus schon bei Ferdinand de Saussure typische binäre Opposition, die, wie gerade gesehen, bei Greimas sogar zu einer Quadrupelopposition wird, habe einige aus seiner Generation vom »statischen Substanzialismus der aristotelischen Logik« befreit und sie statt dessen die Bedeutung des Beziehungsgeflechts und das »Primat von Prozess und Relativität« gelehrt. Hinzuzufügen wäre noch der schon genannte Begriff des »Feldes« oder eben der der »Struktur«, gar der des »Systems«, also das Denken in Ganzheiten, in Totalität, das für Jameson so ungeheuer wichtig ist. Doch sollte all das nicht zu der Annahme verführen, die Maschinerie des Strukturalismus setzte sich von sich aus in dialektische Bewegung.

Durchstoß zur Geschichte

Es gibt wohl außer Jean-Jacques Lecercles »Philosophie marxiste du langage« (2004) keine so spannende marxistische Auseinandersetzung mit nichtmarxistischen Sprachtheorien wie Jamesons »The Prison-House of Language« (1972). Der Strukturalismus interessiert ihn darin als »eine Untersuchung des Überbaus oder, in gewissem Maße, der Ideologie«. In dieser Untersuchung verfahre der Strukturalismus zunächst ganz wie der Marxismus. Er sieht die Welt nicht als eine natürliche, sondern als eine gemachte Ganzheit, beschäftigt sich also nicht mit Dingen, sondern mit hergestellten Dingen, mit Zeichen und Zeichen von Zeichen. Er rückt auf antihumanistische Manier von der gemütlichen Gegebenheit »der Mensch« ab und setzt kühl auf Konstruktion und Rekonstruktion des Menschlichen.

Außerdem lässt sich zumindest vom frühen Strukturalismus sagen, was Jameson in »Marxism and Form« (1971) vom Marxismus gesagt hat: Er erzwinge einen »brutalen Durchstoß von irgendeiner inneren ›Wahrheit der Existenz‹ in eine äußere Welt der Geschichte«. Und doch werde die strukturalistische Dialektik, wie Jameson am Beispiel von Claude Lévi-Strauss aufzeigt, »arretiert« und erschöpfe sich dann in der »Projektion eines vielschichtigen Begriffs auf eine Welt planer Oberflächen«. Insbesondere reflektieren die Strukturalisten nicht – was der erste Akt jedes historisch-dialektischen Unternehmens sein sollte – ihre soziale Rolle, die in ihrem Fall der des Positivismus nicht so fern ist. Im Strukturalismus und im Positivismus haben wir die Ideologie des Weißkittels, des Sozialingenieurs am Reißbrett, den nach dem letzten Weltkrieg bis ungefähr zum Ende von Bretton Woods (Freigabe der Wechselkurse, 1973) noch weitverbreiteten Glauben an vollständige Erfassbarkeit und an Planbarkeit.

Aber selbst in diesem Dienst am Spätkapitalismus lässt sich ein utopisches Element entdecken. Es liegt im Aspekt der Planung selbst. Gewiss, die Planung, auf die die kommunistische Linke vor hundert Jahren gesetzt hat, ist inzwischen in Verruf geraten. Aber dass die neoliberale Planlosigkeit, die Städte verödet und Gesellschaften ins Elend stößt, ihr nicht vorzuziehen sein kann, fiel zuletzt sogar einigen Kapitalfrommen auf. Und auch wenn der Strukturalist als das glatte Gegenteil des Utopisten auftritt, hat er doch mit diesem die Wissenschaftlichkeit gemein. Denn wie die älteste utopische Literatur von Thomas Morus und Charles Fourier an, aber noch die Science-Fiction bezeugen, soll der Utopist ein Gelehrter sein, der die Welt verändern will.

In seinen »Archaeologies of the Future« (2005) hat Jameson das populäre Klischee von den Utopisten so ausgemalt: Sie sollen nicht nur Wissenschaftler gewesen sein, »getrieben von der Empörung über gesellschaftliche Ungerechtigkeit oder von Mitgefühl für die Armen und Unterdrückten, sondern auch Intellektuelle, die übrigens eine Vorliebe für Systeme, für Landkarten und für Schemata aller Art hatten, Alleswisser, die unermüdlich jedem, der ihnen zuhören wollte, die Lösung sämtlicher Probleme vortrugen; Bastler, die ganze Bündel von Papier mit ihren Projekten und ihren Pamphleten schwärzten, endlos Karten, Pläne und Stadtmodelle entwarfen, kurz: Besessene und Irre.«

Die Passage ist auch deshalb sehr komisch, weil Jameson sich in ihr persifliert. Denn der Utopist, der sich nicht nur gegen Ungerechtigkeit empört, sondern auch ein Intellektueller mit einer ausgeprägten Vorliebe für Systeme, Landkarten und Schemata aller Art ist – das ist selbstverständlich er selbst. Man denke, außer an den vierfachen Schriftsinn und das semiotische Viereck, an die für sein Denken grundlegende »Cognitive map«, die geistige Kartierung, die aller Ideologie die (meist unbewusste) Funktion der Orientierung unterstellt. Wenn man also den Unterschied seiner Theorie von der des Strukturalismus in einem Satz zusammenfassen wollte, dann müsste er wohl lauten: Jameson bleibt nicht in einer Gegenwart (strukturalistisch: in der Synchronie), er konfrontiert sie mit der Geschichte (Diachronie), er bescheidet sich nicht mit der Struktur, sondern deckt die Restrukturierung, ja, mit Marx, die »Auslöschung« alter Strukturen auf. Kurz, er zielt auf die Totalität des (kapitalistischen) Prozesses.

Totalität für alle

Die konkrete Totalität ist ein hegelianischer Topos. Er dränge einem, schreibt Jameson in »Marxism and Form«, den Eindruck auf, man hätte noch gar nichts gesagt, solange man nicht absolut alles gesagt hat. Auf sein eigenes Denken der Totalität haben insbesondere Georg Lukács und Jean-Paul Sartre eingewirkt, die allerdings beide nicht von irgendeiner fertigen Totalität, sondern von einer »Intention auf die Totalität« (Lukács) oder von einem »Totalisieren« (Sartre) handeln. In einem verblüffenden Aufsatz (im von Sandra Harding herausgegebenen »Feminist Standpoint Theory Reader«; 2004) hat Jameson Lukács’ »Geschichte und Klassenbewusstsein« (1923) in diesem Sinn zu einem Projekt erklärt, dessen Vollendung genauso noch vor uns liege wie die des »Kommunistischen Manifests« oder der Russischen Revolution.

Lukács will in seiner berühmten Aufsatzsammlung nicht die tatsächliche historische Bewusstseinslage der Arbeiter beschreiben, sondern die Möglichkeitsbedingungen für neues kommunistisches Denken offenbaren. Diese Bedingungen könnten aber, so Jameson, für andere Gruppen – er nennt die Frauen, die Juden, die Queers – ebenso gelten. Dabei soll gewiss nicht die Ausbeutung der Arbeiter mit der Unterdrückung etwa der Frauen vermischt werden, es geht nicht um eine humanistische Beschwörung bereits bestehender Einheit, sondern um den Weg zu ihr hin, und der verläuft notwendigerweise über Differenzen und Widersprüche.

Doch gerade so ergibt sich ein Zug hin zur Totalität, nämlich zur Überwindung alles bloß für sich Stehenden. Denn das, was zum Kampf aufstachelt, ist selbst eine schlechte Totalität: »Das Projekt klingt nur dann nach ›Relativismus‹ oder ›Pluralismus‹, wenn die abwesende Gemeinsamkeit solcher ›Theoriearbeit‹ von unterschiedlichen Standpunkten aus nicht einbezogen wird« – der Spätkapitalismus. »Projekt« ist hier also nicht im Sinn des frühen Sartre, sondern in dem des reifen Autors der »Kritik der dialektischen Vernunft« (1960) gemeint, einem Werk, in das Jameson in »Marxism and Form« meisterlich einführt. Für den späten Sartre ergibt sich die Gruppenaktion notwendigerweise aus Zwängen. Revolution ist Negation der Negation.

An dieser Stelle sollte deutlich geworden sein, was Jameson mit »politischer Praxis« meint – weder wohlfeile Ideologiekritik noch Wunschdenken. Er fordert, ob bei der Lektüre eines Buches, bei der Betrachtung eines kulturellen Phänomens (etwa der Postmoderne) oder einer gesellschaftlichen Entwicklung, die Widrigkeiten und Möglichkeiten gleichzeitig im Blick zu haben. Er fordert den Eintrag des Begriffenen in eine strukturierte Totalität. Es gibt wenig, das schwerer und zugleich lohnender wäre.

Wenn Sartre in seiner »Kritik« schreibt, dass Verstehen nichts anderes sei als »die Durchsichtigkeit der Praxis auf sich selbst«, hat Jameson immer wieder erklärt, weshalb alltägliche Praxis selten durchsichtig wird. Im »Politisch Unbewussten« ist es unter anderem Honoré de Balzac, der nicht wirklich weiß, was er schreibt, und vor allem nicht, warum er es schreibt, weil sein Denken, mit Louis Althusser formuliert, von einer »abwesenden Ursache«, sprich vom Kapitalismus, gesteuert ist. Denn der Kapitalismus ist »außer in seinen Symptomen nirgendwo sichtbar« (»Representing ›Capital‹«; 2011) und niemals ist jemand irgendeiner Totalität ansichtig geworden. Die Totalität des Kapitalismus sträubt sich gegen die Darstellung, verhält sich also, mit einem weiteren Kernwort Jamesons gesagt, wie eine Allegorie, nämlich wie ein Begriff, zu dem die Bilder nicht recht passen wollen, die für ihn gefunden werden.

Utopie der Allegorie

Wie schon für den großen Romanisten Erich Auerbach in »Mimesis« (1946), ist die Allegorie für Jameson ein weiteres Beispiel nicht etwa für Bedeutung, sondern für die Produktion von Bedeutung, mehr noch, mit Walter Benjamin, für eine auf höchst lehrreiche Weise scheiternde Produktion von Bedeutung. Benjamin hat in seinem »Ursprung des deutschen Trauerspiels« (1925) darauf hingewiesen, dass die Allegorie für uns nicht mehr das rückstandslos aufzulösende Sinnbild sein kann, das sie in der Renaissance war (Albrecht Dürers »Melancholie« das bekannteste Beispiel). Sie kehre als Krisenphänomen wieder, schreibt er in den »Zentralpark«-Fragmenten (1938/39): »Die Allegorie ist die Armatur der Moderne« – weil sie Bild und Begriff, Ding und Ware zugleich zusammenkommen und auseinandertreten lässt.

Während Benjamin bei der modernen Allegorie an Charles Baudelaires Großstadtbilder denkt, denkt Jameson an etwas viel Abstrakteres: »In älteren Allegorien wurde eine Idee oder ein Wert auf anthropomorphe Weise ›dargestellt‹: ›Ich bin Gier! Ich bin Tugend!‹« (»Representing ›Capital‹«). Doch die Entpersönlichung der kapitalistischen Moderne bringt solche Personifikationen ins Wanken. Kapitalisten sind dann beispielsweise nur noch, wie es bei Marx heißt, »Träger« unpersönlicher Vorgänge (etwa der Akkumulation), keine Subjekte mehr. Allegorien sind Darstellungen, die gerade als in sich widersprüchliche die Welt fassbar werden lassen. Allegorien sind Ideologien, die sich bei näherem Hinsehen als solche entlarven. Deshalb ruft uns Jameson zu: »Nicht nur ist alles allegorisch geworden, sondern alle Allegorie ist utopisch!« Aber, mögen diejenigen einwenden, die Utopie mit Idyll oder Pastorale verwechseln, ist denn das Utopische nicht die Aufhebung aller Widersprüche, ist es nicht der Ausweg aus unserer Not? Nein, die Utopie ist ein »Nachdenken über das Unmögliche und Unrealisierbare«, das die Unmöglichkeit des schlecht Bestehenden vor Augen führt.

Noch einmal: Marxistische Kulturpolitik vollzieht sich in der »gleichzeitigen Anerkennung der ideologischen und utopischen Funktionen«. Ideologie beharrt, Utopie bricht auf, die erste bestätigt die Geschichte, die zweite widerspricht ihr. Doch verweist Jameson in seinem aufregenden Durchgang durch den ersten Band des »Kapitals« (»Representing ›Capital‹«) darauf, dass alle Kritik des Kapitalismus – also auch die utopische – der Gefahr ausgesetzt ist, auf die reaktionäre Ideologie von einer »schlichten Vergangenheit« oder guten alten Zeit zurückzufallen.

Wir sollten außerdem erkennen, dass die Utopien von Morus und Fourier über Ursula Le Guin bis zu Rudolf Bahros »Alternative« (1977) gerade aufgrund ihrer großartigen Absichten – die Abschaffung des Eigentums, die nichtentfremdete Arbeit, die Gleichheit der Geschlechter – stets auf ein »historisches Dilemma« treffen (»Archaeologies«). Sie dürfen sich, wie Jürgen Teller in seinem Nachwort zur DDR-Ausgabe von Morus bemerkt, nicht weiter von der Wirklichkeit entfernen, »als die Wirklichkeit sich in der Entwicklung von sich selber entfernen kann«. Deshalb seien, so Jameson, die »besten Utopien« gerade die, »die am verständlichsten scheitern«. Das Scheitern der Utopie beweist aber nicht, dass es nicht anders geht als so, wie es gerade geht, sondern umgekehrt, dass es so nicht weitergehen kann.

Jameson fordert nicht andere, sondern mehr Utopien, eine »jugoslawische Föderation« von Utopisten, die sich in ihrer »Intention auf die Totalität« gegenseitig widersprechen, immerzu die selbstgefällige Gegenwart mit einer unsicheren Zukunft beunruhigen und der neoliberalen Behauptung, es gebe keine Alternative, ebenso standhaft wie grundlos widersprechen. Die Funktion der Utopie liegt darin, eine Alternative einzufordern. Jameson hält deshalb mit dem ironischen Viereck »Für / Gegen // Nicht ›gegen‹ / Nicht ›für‹« auch die »utopische Figur« des Neutralen fest, von der Louis Marin (»Utopiques«; 1973) geschrieben hat. Damit ist gemeint, dass die Utopie weder das eine noch das andere ist. Sie ist noch nicht das andere, sie sucht nach ihm.

Vielleicht ist es die sublimste Lehre von Jameson, dass erst die Form uns über den Inhalt aufklärt – die Form, die erst gewonnen sein will. Wer mit diesem Theoretiker denkt, verbindet Dinge miteinander, die die »Mode streng geteilt«, erkennt Wege, die vorher im Dunkeln lagen. Fredric Jameson formt Kommunisten auf seine Weise: Auch nachdem sie ihre Illusionen abgeschüttelt haben, haben sie den Enthusiasmus nicht verloren.

Stefan Ripplinger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 2. Februar 2024 über die Schriftstellerin Gertrude Stein.

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