junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Dienstag, 30. April 2024, Nr. 101
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 09.04.2024, Seite 2 / Inland
Repression an Hochschulen

»Dadurch wird eine Sonderstrafjustiz geschaffen«

Berliner Senat will weitreichendes Ordnungsrecht an Hochschulen einführen. Ein Gespräch mit Cristin A. Villa
Interview: Henning von Stoltzenberg
Demonstration_Hands_81498184.jpg

Der Berliner Senat hat am 26. März eine Änderung des Hochschulrechts beschlossen. Was beinhaltet diese Änderung?

Durch die Gesetzesänderung wird das Ordnungsrecht über Studierende an Berliner Hochschulen wieder eingeführt, das erst 2021 vom rot-rot-grünen Senat abgeschafft worden war. Diese Wiedereinführung ei­nes nun deutlich weitreichenderen Ordnungsrechts ermöglicht das Verhängen von Ordnungsmaßnahmen durch die Universitäten. Das schärfste Mittel ist dabei die Möglichkeit der Zwangsexmatrikulation von Studierenden. Verhängt werden sollen diese Maßnahmen von einem hochschulinternen Ordnungsausschuss.

Was kritisieren Sie an der geplanten Wiedereinführung?

Der Gesetzentwurf, den der Senat beschlossen hat, öffnet Tür und Tor für ein politisches Gesinnungsordnungsrecht. Er verkennt dabei grundlegend die essentielle Rolle von Hochschulen als öffentliche Diskursräume. Einem relativ willkürlich zusammengestellten Ausschuss wird die Entscheidung über schwerwiegende Eingriffe in die Grundrechte der Studierenden überlassen, ein Gerichtsurteil ist nicht nötig. Dadurch wird eine Sonderstrafjustiz an Hochschulen geschaffen. Die Entscheidungsgewalt über Grundrechtseingriffe liegt normalerweise unter anderem aus rechtsstaatlichen und Gewaltenteilungsgründen bei Gerichten. Zudem droht Studierenden eine Doppelbestrafung durch die ordentliche Gerichtsbarkeit als auch durch die Hochschulen. Die Mehrheit der Studierenden wird nicht die finanziellen Möglichkeiten haben, gegen Ordnungsmaßnahmen zu klagen. Die rechtsstaatliche Kontrolle, auf die sich die Koalition in der Debatte nun oft beruft, um das verkürzte Verfahren zu rechtfertigen, ist daher nur erschwert möglich. Zudem sind Arbeitsplätze, Wohnheimplätze und Aufenthaltsstatus an den Immatrikulationsstatus geknüpft und so akut bedroht. Der konkrete Entwurf ist gekennzeichnet durch weite Tatbestände, die einen ausufernden und missbräuchlichen Einsatz der Repressionsmittel ermöglichen. So wird zum Beispiel nicht genau definiert, was alles unter den juristisch sehr weiten »Gewalt«-Begriff fallen soll.

Wird die Studierendenschaft in die Beratung einbezogen?

Die Studierendenschaften werden in den Prozess nur sehr unzureichend einbezogen. Die Koalition versucht, die Gesetzesänderung im Eiltempo durchzubringen. Sie tut dies gezielt in den Semesterferien. Das erschwert eine Beteiligung von Studierenden und das Entstehen einer kritischen Öffentlichkeit. Zwar wurden die Asten mit völlig verkürzter Frist von vier Werktagen um Stellungnahme gebeten. Die ausführliche Kritik der Landesastenkonferenz wurde anschließend in keinerlei Hinsicht berücksichtigt. Ebenso nicht beachtet wurde auch die dezidierte Kritik der Gewerkschaften Verdi und GEW sowie der Landeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten.

Was wären Alternativen zum Ordnungsrecht?

Der begründete Zweck der Novelle – die Sicherstellung eines sicheren Raumes für Studierende frei von Diskriminierung und Gewalt – kann durch den vorliegenden Entwurf nicht erreicht werden. Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra verweist zudem selbst darauf, dass dieser Gesetzentwurf in der viel diskutierten Causa Lahav S., welche mit Anstoß für die Wiedereinführung des Ordnungsrechts war, gar nicht greifen würde. Was tatsächlich vor Diskriminierung schützen würde, wäre eine ordentliche Antidiskriminierungsberatungsstruktur der Hochschulen und starke Beauftragtenpositionen sowie Betroffenenvertretungen mit tatsächlicher Handlungsmacht.

Welche Folgen befürchten Sie für die studentische Protestkultur?

Die angekündigte Änderung ist eine Kampfansage an politische Organisation an den Berliner Hochschulen und an jegliche Politisierung der Universitäten. Vielfältige politische Aktion, vom Plakatieren über Hörsaalbesetzungen bis zum öffentlichen Benennen übergriffiger Professoren, könnte zu Exmatrikulationen führen. Wir konnten zum Beispiel in bezug auf die jüngsten Fälle von Machtmissbrauch durch Dozierende beobachten, dass als wirksamstes Mittel oft nur Protest und öffentlicher Druck durch Studierende bleibt. Dieser studentische Protest wird verunmöglicht, solange das Damoklesschwert des Ordnungsrechts über den Berliner Studierendenschaften schwebt. Allein die Androhung von ordnungsrechtlichen Maßnahmen wirkt repressiv.

Cristin A. Villa ist Sprecherin des ReferentInnenrates der Humboldt-Universität zu Berlin

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Dieser Artikel gehört zu folgenden Dossiers:

Ähnliche:

Regio:

Mehr aus: Inland