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Aus: Ausgabe vom 06.04.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Ganz unten

Gerhard Schröder in der Hölle
Von Peter Köhler
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Seine Liebe war nicht stark genug

Als ihn der Mann mit dem Dreizack willkommen hieß und ihm mitteilte, dass er tot sei, reagierte Gerhard Schröder zunächst ungläubig. Er war doch eben noch auf seiner Geburtstagsparty mit lauter lupenreinen Demokraten gewesen und hatte mit seinem Freund Wladi angestoßen! Aber als er sich umblickte und das lange dunkle Gewölbe gewahrte, stutzte er.

Richtig, gerade hatte ihm Peter Hartz einen Witz erzählt, als er mitten im schönsten Lachen einen jähen Schmerz in der Brust spürte. Er fasste sich dorthin, wo er ein Herz vermutete, begann zu keuchen, wollte sich setzen, bekam keine Luft mehr und fiel zu Boden. Die Leute stürzten herbei, er sah aufgerissene Augen, gespannte Mienen und Doris’ gelangweiltes Gesicht, das zu sagen schien: »Ach, zieh nicht so eine Schau ab!« Er hörte aufgeregte Stimmen, seine koreanische Frau So-yeon rief: »Ist hier Arzt?!« dann muss er das Bewusstsein verloren haben …

Woher kamen eigentlich hier die Schreie? Das Gewimmer? Das Stöhnen? Was machten diese Leute in den Kochtöpfen?!

Schröder tippte einem Mann, der Briketts unter einen Topf schichtete, auf die Schulter.

»Moment!« rief der, »Sie kommen schon noch dran! Bitte ein bisschen Geduld!«

Schröder wartete, aber als der Mann sich einem zweiten Kochtopf zuwandte, ging er ein wenig herum und –

»Gerhard!«

»Mama!? Papa?«

»Gerdchen! Das ist aber schön, dass du uns besuchst!« sagte die Frau und strahlte.

»Ja … äh …, was macht ihr denn hier? Was ist das hier?«

»Jetzt lass dich erst mal anschauen, Junge«, ignorierte die Frau seine Frage. »Gut siehst du aus!«

»Na ja, ich habe ziemliche Herzschmerzen. Aber sonst kann ich nicht klagen.«

»Was macht der Beruf?« schaltete sich der Mann im Topf ein. »Arbeitest du noch in der Eisenwarenhandlung? Du bist doch bestimmt Substitut geworden!«

»Was redest du denn da, Paul. Der Gerd hat doch das Abi nachgemacht, und dann hat er studiert, und dann ist er sogar Anwalt geworden, und dann …«

»Abitur? Studium? Anwalt?! Bist ein feiner Pinkel geworden?« fragte der Mann erstaunt.

»Und dann ist er in die Politik gegangen!« setzte ihn die Frau weiter ins Bild. »Er ist Kanzler geworden! Er war in der SPD!«

Der Mann starrte Schröder an, dann fasste er sich langsam: »Du bist …, dann hast du für uns kleine Leute …? Leck mich am Arsch, wir haben es den Geldleuten endlich mal gezeigt?! Du hast es geschafft, gegen die Großkopferten, die Ausbeuter und Kapitalisten? Mann, mir geht das Herz auf. Gerhard! Sohn! Genosse!«

Schröder ließ seinen Stiefvater Paul Vosseler weiterquasseln. Der war zeit seines Lebens Hilfsarbeiter und schon 1964 gestorben, weshalb er den Aufstieg Gerds, den Erika in die Ehe eingebracht hatte, verpasst hatte. Aber dass der Gerd höher hinaus wollte, hatte er immer gewusst. Er drückte ihm die Hand, aber der war mit den Gedanken woanders.

Ob hier nur kleine Leute waren wie seine Mutter, diese Putzfrau? Er war doch der Unterschicht glücklich entkommen! Sollten sie ihn halt Genosse der Bosse nennen. Er hatte es geschafft! Von der Volksschule ins Kanzleramt, vom Bauhilfsarbeiter in den Semesterferien auf Augenhöhe mit den Entscheidern in der Wirtschaft, den Regierenden!

»Bist du noch mit Doris zusammen?« fragte ihn seine Mutter. »Ihr wart so ein schönes Paar.«

»Nee, wir haben uns getrennt. Sind gute Freunde.«

»Hast du Kinder?« fragte ihn sein Stiefvater. »Alles Kämpfer für die gute Sache?«

Schröder ignorierte ihn. »Muttchen, ich will mal weiter. Ich komme später noch mal vorbei. Ist eigentlich Fritz irgendwo hier unten?«

»Oh, dein Vater soll in der Abteilung für Soldaten sein. Ein schrecklicher Ort! Dort werden die Leute, die für eine böse Sache kämpften, in einem fort erschossen, zerfetzt, verstümmelt, zermalmt. Jeden Tag aufs neue!«

Gut, dass ich verhindert habe, dass Deutschland sich am Irakkrieg beteiligt, dachte Schröder, ohne an seinen 1941 in Jugoslawien verschollenen Erzeuger einen weiteren Gedanken zu verschwenden. Aber hier bei den einfachen Kochtöpfen bleibe ich nicht länger. Ein Kanzler gehört nicht hierhin!

»Tut mir leid, dass wir dir nichts anbieten können, Gerdchen. Aber komm doch rein!« sagte seine Mutter und machte eine einladende Handbewegung auf das brodelnde Wasser. »Ist gar nicht so schlimm, du gewöhnst dich daran wie an alles andere im Leben.«

»Nee, ich dreh’ mal ’ne Runde«, sagte Schröder. »Ich muss mich erst mal orientieren.« Ob’s hier wohl irgendwo die Bild gab? »Also dann!«

»Vielleicht kriegst du einen Topf hier bei uns«, fuhr seine Mutter fort, und sein Stiefvater ergänzte: »Schau dich ruhig um. Nachher hast du vielleicht keine Gelegenheit mehr dazu!«

Schröder schlenderte umher, blieb ab und zu vor einem Topf stehen – als Politiker und gerissener Wahlkämpfer wusste er, dass man sich mit dem Volk gemein machen muss – und wechselte ein paar Worte, falls die Leute ihn nicht erkannten und wegjagten. Was man ihm erzählte, gefiel ihm durchaus nicht: dass die verschiedenen Sünder auf sogenannte Kreise verteilt waren und es zum Beispiel eine große Abteilung gab, in der die Führer von Schurkenstaaten bis in alle Ewigkeit in einem kochenden Blutsee schwammen, Leute wie Alexander der Große, Friedrich II. von Preußen, George W. Bush und so.

Schröder erinnerte sich vage an seinen Konfirmationsunterricht, demzufolge die Hölle ein feuriger Pfuhl oder Feuerofen sei, und war bei seinem Rundgang überrascht, wie anders es war. Da wurden Geldfälscher so lang gestreckt, bis man durch sie hindurchsehen konnte, und fette Gourmands von Hunden zerfleischt und gefressen – Schröder war froh, dass er sich nur von Currywurst und einer Flasche Bier ernährte und damit wenigstens ein Erbe seiner schlichten Herkunft bewahrt hatte, und erschrak, als er vernahm, Unternehmer würden jeden Tag von ihrer zur Schau gestellten schweren Verantwortung in Gestalt eines Sechzehntonnengewichts zerquetscht, Autofahrer in einem fort von SUVs überfahren und zermatscht, Bauern mit Insektiziden und Herbiziden besprüht und gefüttert; während er mit Genugtuung registrierte, dass Zirkusclowns sich mit langen Latten gegenseitig die Schädelkalotte weich prügelten, bis sie wie Eierschnee war.

Jemand muss großen Spaß daran gefunden haben, sich diese Strafen auszudenken, dachte Schröder und erfuhr auch, warum man in der Hölle sogar mit den Zähnen klappern musste: Die kleinen und großen Verräter steckten für immer tief in Eis, weil sie Verwandte, Freunde oder Anhänger im Stich gelassen, für persönliche Vorteile verraten oder schlicht aus Ehrgeiz vergessen hatten. Schröder rieselte es kalt den Rücken runter. Mit Achselzucken reagierte er dagegen, als er die Simonisten in siedendem Pech wahrnahm. Simonisten, erklärte ihm einer der diensthabenden Hilfsteufel, seien Leute, die vor Jahrhunderten Ämter in der Kirche gegen Geld vergeben hätten. Erst als ihm klarwurde, dass Lobbyisten mitgemeint sind, wurde Schröder siedendheiß. Jetzt hätte er gern Doris dabeigehabt, um ihm mal ’ne Flasche Bier zu holen.

Der Sozialdemokrat a. D. strich sich über seinen feinen Anzug von Brioni und gelangte vor ein hohes Tor. Durch einen Spalt spähte er hinein und sah eine unüberschaubare Menschenmasse ächzen, winseln und brüllen. Die Gepeinigten trugen Hemden aus glühendem Teer, kochendes Wasser ergoss sich ihnen über die Köpfe, während ihnen Eiter und flüssiges Metall eingeflößt wurde; sie schrien, dass ihnen Haut und Bauch schmölzen. Schröder kam sich wie in einem schlechten Film vor.

»Das sind die Religiösen«, steckte ihm durch den Spalt der Türwächter. »Gehören Sie dazu?«

»Nein, ich bin Protestant.«

»Glück für Sie. Hier sind sie alle untergebracht, vom Inquisitor bis zum Ajatollah, die Kreuzritter und Dschihadisten, die Fanatiker und Eiferer, eine Menge Päpste und ein Haufen Glaubenslehrer aller Art. Sie verstehen?«

»Nee, überhaupt nich!«

»Was ist so schwer zu verstehen? Es sind alle, die glaubten, Gott kapern zu können, um in seinem Namen Mord und Totschlag zu predigen, Folter zu betreiben und Krieg zu führen. Aber auch solche, die ihn durch selbstsüchtiges Beten belästigten.«

»Aber …«, Schröder wollte etwas einwenden, aber ihm fiel nichts ein. Statt dessen hielt er Maulaffen feil.

»Nun ja«, lenkte der Wächter ein, der merkte, dass er einen Neuling vor sich hatte, und strich sich über die gehörnte Stirn. »Am liebsten hat Gott es, wenn man ihn in Ruhe lässt und nicht mit Andachten, Messen, Wallfahrten, Pilgerreisen, heiligen Kriegen und solchem Kram belästigt. Die Leute spannen ihn bloß für ihre ureigenen Interessen ein.«

»Aber die Religion …«, stammelte Schröder verwirrt.

»Was soll damit sein?« versetzte der Wärter. »Gott kümmert sich um so was nicht. Christentum, Judentum, Islam und was noch alles – ich sage Ihnen: viel raffiniert ausgedachter Unsinn. Locken auf einer Glatze gedreht!«

»Äh …«

»Um es auf den Punkt zu bringen: Religion ist Gotteslästerung.«

»Ach was«, sagte ein aus dem Tritt gebrachter Schröder, um irgend etwas zu sagen.

Der Wächter fixierte ihn: »Wie halten Sie’s eigentlich mit ihr? Auch wenn Sie bloß Protestant sind, haben Sie seine erhabene Ruhe doch schon mal mit einem Gebet gestört?«

Schröder verneinte, aber der Wächter schien ihm das schlechte Gewissen an der Nasenspitze anzusehen, griff den Dreizack fest, öffnete mit der anderen Hand weit die Tür und langte nach dem Exkanzler. »Kommen Sie, ich –«

Jemand zog Schröder plötzlich zurück. »He! Was soll –«

»Mein Lieber, Ihr müsst Euch in Acht nehmen vor diesen Schergen, die sich einen Spaß daraus machen, einen Unschuldigen in den Saal zu zerren! Übrigens«, der Fremde streckte ihm die Hand entgegen, »darf ich mich Euch vorstellen? Mein Name ist Alighieri, Dante Alighieri.«

»Schröder mein Name, Gerhard Schröder. Sie …, sind Sie schon länger hier, Herr äh … Alieri?« Schröder ahnte, dass es mit dem Namen eine Bewandtnis hatte, aber weil er sich seit Jahrzehnten nur durch Bild und Glotze informiert hatte, konnte er es nicht wissen.

»Nennt mich ruhig Dante, das hält hier jedermann so. Wisst, ich genieße hier eine gewisse Freizügigkeit, bin aber verpflichtet, jeden Tag Vergil herumzuführen. Jeden Tag, mein Herr! Darin besteht meine Strafe. Der Name Vergil sagt Euch etwas?«

»Nee, eine Jungfrau, wie? Ha, ha, ha.« Schröder lachte in seiner typischen, abgehackten Art.

»Aber lieber Freund! Vergil ist ein großer Dichter. Der Homer der Römer! Der Name Homer sagt Euch ebenfalls nichts?«

»Nee, ist ein warmer Dichter, was? Ha, ha, ha.«

Dante ignorierte Schröders Scherzversuch. »›Höre auf zu hoffen, dass von den Göttern gesetzte Schicksale durch Beten abgebogen werden können.‹ Der Spruch stammt von besagtem Vergil. Er prangt groß am Eingang zu diesem unseren Etablissement.«

»Klingt wie: Jedem das Seine.«

»So neu Ihr seid, so gut kennt Ihr offensichtlich bereits das andere Motto unserer Verwaltung. Was ist Ihr Vergehen, mein Bester?«

»Keine Ahnung, man hat es mir bislang nicht gesagt«, sagte Schröder, der sich nicht als Politiker zu erkennen geben wollte.

»So es sich um Allerweltsdelikte handelt, kommt Ihr zu den kleinen Leuten«, erläuterte Dante. »Hier das Finanzamt beschummelt, dort den Kellner im Gasthof betuppt, jemanden beim Chef angeschwärzt, die Frau angeschwindelt oder eine kleine Lüge den Freunden aufgetischt, um besser dazustehen. Genau werdet Ihr’s womöglich niemals erfahren. Vielen ergeht es auf diese Weise. Aus purem Schabernack.«

»Klingt, als spielten wir in einer Komödie mit.«

»Einer göttlichen!« stimmte Dante sarkastisch zu. »Was wart Ihr von Beruf, wenn Ihr mir die Frage erlaubt?«

»Po…«, Schröder stockte, »Schriftsteller!« Schließlich wollte er sich als intelligenter Mensch ausgeben und hatte mehrere Bücher abgesondert. Dass eines »Entscheidungen. Mein Leben in der Politik«, ein anderes »Klare Worte« hieß und alle genauso Schrott waren, behielt er für sich, aber dass er eins, zwei Millionen Euro als Vorschuss eingesackt hatte, verkündete er stolz. ­Dante schien nicht beeindruckt.

»Schriftsteller also seid Ihr von Profession«, nickte er und zwinkerte Schröder zu. »Dann habt Ihr hoffentlich keine Dutzendware verzapft! In solchem Falle würdet Ihr zum Mainstream gerechnet werden und müsstet ewig, verzeiht mir meine unschickliche Wortwahl, in einem Strom aus Scheiße schwimmen. Habt Ihr das Privileg genossen, eine Kunst studieren zu dürfen?«

»Kunst?« fragte Schröder. »Ach so, ja. Jura. Ist auch eine rechte Kunst.«

»So rechnet damit, mein Freund, in einer Tour nach Recht und Gesetz gerädert und gepfählt zu werden. Es ist das reinste Inferno, sage ich Euch! Das Wasser in den Kochtöpfen dagegen ist einigermaßen sauber und wird wöchentlich frisch aufgesetzt.«

»Wer denkt sich das alles aus!« Schröder wurde es allmählich zuviel.

»Nun, was meint Ihr?«

»Satan?« Schröder klaubte die Bruchstücke seines als Konfirmand aufgesammelten Wissens zusammen: »Luzifer?«

»Das sind die Manager, die leitenden Angestellten. Früher nannte man sie Diener des Allerhöchsten, sie waren Mitglieder von Gottes Hofstaat.«

»Was machen sie dann hier?!«

»Sie sind arbeitslos geworden, weil es da oben sehr wenig zu tun gibt. Deshalb hat Gott sie entlassen, und jetzt haben sie hier unten Jobs auf Ein-Euro-Basis bekommen.«

Schröder kam nicht umhin, dem da oben Anerkennung zu zollen. »Wie ist der große Zampano eigentlich? Was macht er so?«

»Den Allmächtigen kriegt kaum jemand von Angesicht zu Angesicht zu sehen.« Dass er dieses Anrecht verwirkt hatte, weil er in einem Buch geprahlt hatte, schon zu Lebzeiten das Paradies besucht zu haben und Gottes ansichtig geworden zu sein, verschwieg Dante. Dabei hatte er das alles nicht ernst gemeint! Aber Humor hat nicht jeder.

Schröder kramte eine Erinnerung aus dem Religionsunterricht hervor: »Ich dachte, hierher kommt nur, wer eine der sieben Todsünden begangen hat. Also äh … Hochmut, das heißt Stolz, und … äh …«, Schröder stockte in einem Moment der Selbsterkenntnis.

»Und Neid, Zorn, Trägheit, Habsucht, Völlerei, Wollust«, vollendete Dante die Aufzählung. »Darum macht hier niemand viel Aufhebens, derlei ist nicht schlimmer als alles andere, was dem HErrn nicht passt. Indes«, Dante ­änderte den Tonfall ins mehr Vertrauliche, »lieber Freund, Ihr seid doch, wie mich dünkt, ein wenig herumgekommen: Sagt, habt Ihr irgendwo ein gar hübsches Frauenzimmer erblickt? Beatrice ist ihr holder Name, Beatrice Portinari. Ich suche sie seit über 700 Jahren!«

»Nee, tut mir leid.«

»Schade.« Dante gab ihm die Hand: »Meine Mittagspause ist vorbei. Entschuldigt mich, ich muss zu Vergil und wieder sein Cicerone sein. Es war mir ein Vergnügen, Euch kennengelernt zu haben!«

Schröder zog weiter und wurde bald von einem Hilfsteufel aufgehalten, der ihn schon lange suchte. Schröder wurde es mulmig. Er wusste, dass ihm schon auf der Erde viele die Pest an den Hals gewünscht hatten. »Arbeiterverräter«, »Lakai der Wirtschaft«, »Speichellecker der Konzerne« hatte man ihn geschimpft. Dass ein Parvenü wie er, der an seine niedere Herkunft nie mehr erinnert werden wollte, nicht endlos aufsteigen und in den Himmel kommen konnte, hätte ihm vorher klar sein können. Aber der Himmel war wahrscheinlich sowieso leer und langweilig. Und wenn dort Leute wie Marx, Bebel oder Brandt sein sollten, wäre er für ihn schlimmer als die Hölle.

»Wir hatten eigentlich vor, Sie in den Kreis der Politiker aufzunehmen«, sagte das Teufelchen. »Dort ist das Dasein kein Zuckerschlecken, denn je nach ihren Vergehen werden sie in Eis gepackt oder in einen kochenden Blutsee geworfen oder in siedendes Pech geworfen« – Schröder nickte unwillkürlich –, »aber man hat entschieden, dass das für Sie nicht hart genug wäre.«

Schweigend gelangten sie in den großen Saal zurück. Der Hilfsteufel nahm wieder das Wort: »Die größte Pein für Sie ist, bis in alle Ewigkeit unter kleinen Leuten zu sein, unter den Habenichtsen, den nicht zuletzt durch Sie Erniedrigten und Beleidigten.« Schröder protestierte, aber niemand achtete auf seine Worte. Der teure Anzug wurde ihm vom Leib gerissen, die Zigarre in der Brusttasche fiel heraus und wurde zertreten, der silberne Löffel, der sich in der Hosentasche verbarg, wurde ihm tief in den Mund geschoben. So verstand ihn niemand, als er noch zu handeln versuchte und seine schönen Millionen aus den Geschäften mit seinem lupenreinen Freund Wladi ins Spiel bringen wollte. Nichts als Grinsen war die Antwort, während er bis auf die Haut entkleidet wurde. Auf einen Wink kam ein weiteres Teuflein mit der Forke: »Es ist alles bereit! Das Wasser kocht schon!« und trieb Schröder an einen Topf in der Nähe von Mutter und Stiefvater. Zwei Spießgesellen warteten bereits, packten ihn und warfen ihn mit einem lauten »Basta!« ins brodelnde Wasser. Schröder schrie und ruderte heftig mit Armen und Beinen, doch jedes Mal, wenn er an den Rand kam und sich heraushangeln wollte, stießen ihn die beiden mit einem »Ha, ha, ha!« zurück. Endlich gab der Exkanzler auf, stöhnte und wimmerte noch ab und zu, dann war er still.

Peter Köhler, geboren 1957 in Eschwege, ist Journalist und Schriftsteller und hat zahlreiche Anthologien und Sachbücher veröffentlicht. Er ist Mitglied der satirischen »Neuen Göttinger Gruppe« und gehört der Jury des Satirepreises »Göttinger Elch« an. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle in der Ausgabe vom 27./28. März 2023 über einen Tag im Leben Mohammeds.

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