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Aus: Ausgabe vom 26.03.2024, Seite 12 / Thema
Liedermacher

DDR konkret

»Alltag besingen, wie er ist«. Zum 80. Geburtstag des Liedermachers Reinhold Andert
Von Ingar Solty
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»Die Welt in der Episode, augenzwinkernde Tiefgründigkeit« – die Methode des Chansonnier Reinhold Andert (Aufnahme von 1973)

Es fällt schwer, den am 26. März 1944 im tschechischen Teplitz-Schönau geborenen Sohn eines Herrenschneiders und einer Arbeiterin zu fassen: ein Intellektueller, der von 1969 bis 1972 als Assistent an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Ostberlin Philosophie lehrte und seit vier Jahrzehnten als Historiker forscht, zugleich aber als Liedermacher und Mastermind des Oktoberklubs Karriere machte; ein katholischer Antikommunist, aufgewachsen im »Vertriebenen«-Heimatkitsch der Ost-CDU, der später sozialistischer Künstler wurde; ein ehrlicher Kommunist, der aus der SED ausgeschlossen, gemieden und nicht mehr zu Auftritten eingeladen wurde, der trotzdem nie in den Westen ging und der auch nach 1989 nicht seinen Frieden mit der BRD machen wollte.

Andert wollte zunächst Priester werden und besuchte das bischöfliche Vorseminar in Schöneiche, verließ es aber aufgrund der »unchristlich-menschenfeindlichen« Atmosphäre ein Jahr vor dem Eintritt ins Priesterseminar. Neben einer Orgelbauerlehre in Gotha – er war über den Kirchenchor stark musikalisch vorgeprägt – holte Andert das Abitur über den zweiten Bildungsweg nach. Noch vor der Abschlussprüfung seiner Lehre erhielt er die Zulassung zur Humboldt-Universität, wo er sich zum Wintersemester 1964 für Philosophie und Geschichte einschrieb. Zu dieser Zeit verstand er sich als »Feind der DDR und des Sozialismus«, weil »das eine atheistische Weltanschauung war, dieser Marxismus«. Auch darum urteilt er heute: »Wenn mir heute jemand erzählt, er sei in der DDR (…) aufgrund seiner Weltanschauung nicht zum Studium zugelassen worden, dann lügt der frech.«

Anderts Hochschulzeit waren die 60er Jahre. Da gab es den sozialistischen Liedermacher Perry Friedman aus Vancouver, der mit Pete Seeger bei den US-Gewerkschaften aufgetreten war, seit 1959 aber in Ostberlin lebte und im Klub der Jugend und Sportler lose Zusammenkünfte veranstaltete. Ein weiteres Zentrum war das Jugendradio DT64, wo Friedman die Sendung »Treffs mit Perry« unterhielt. Aber auch die Beatmusik wirkte in der DDR. So entstanden schnell an den Beatles orientierte Gruppen wie »Team 4« von Hartmut König und Thomas Natschinski.

Kommilitonen führten Andert, seinerzeit noch an gregorianischen Chorälen interessiert, im Frühjahr 1965 in diese Jugendkultur ein, während er sich durch sein Studium, so der befreundete König, »immer tiefer in den Marxismus hangelte«. Anstatt mit seinem Zimmernachbarn Wolfgang Thierse in die katholische Studentengemeinde ging er nun zur 1.-Mai-Demo, wo »wir statt Blasmusik alle irgendwelche Klampfen, Banjos und Waschbretter dabeihatten und Ostermarschlieder gesungen haben«. Wichtig war auch ein in der Volksbühne veranstaltetes Programm mit Lyrik und Songs. Angetrieben vom Bedürfnis, dies zu verstetigen, gründeten Friedman, König, Andert und andere im Februar 1966 den Hootenanny-Klub im dritten Stock des Kinos International, eine, so Andert rückblickend, »sehr demokratische Angelegenheit«, schließlich »lernt man drei Griffe schnell (…) und singen kann im Grunde auch jeder.«

Der Oktoberklub

Als Spiritus Rector stand hinter der Gruppe unter anderem Lin Jaldati, die als kommunistische Jüdin schon in Amsterdam unter deutscher Besatzung geheime Liederabende veranstaltet hatte, zusammen mit Anne Frank nach Auschwitz deportiert wurde und als Holocaustüberlebende schließlich in die DDR übergesiedelt war. Über Friedman und Jaldati kam Andert so auch mit Liedern der internationalen Arbeiterbewegung in Berührung. In »Texterbude« und »Werkstatt« entstanden eigene Lieder auf Deutsch.

Der Klub, der sich bald in Oktober-Klub umbenannte, entstand somit als ostdeutsche Variante der weltweiten Folkbewegung. Die Debatten über die »keinesfalls unpolitische Tanz- und Schlagermusik« (Lutz Kirchenwitz) und die »Diskussionen über schlechte Schlagertexte« mit Friedman ähnelten denen in der BRD, wo auf der Burgruine Waldeck im Hunsrück von 1964 bis 1969 Festivals mit ähnlichem intellektuellen Überbau stattfanden. Während im Westen Leute wie Peter Rohland, Gerd Semmer und Diethart Kerbs in den Ästhetikdebatten die Hauptrolle spielten, waren es in der DDR Intellektuelle wie Manfred Wekwerth, Volker Braun und Gerhard Scheumann. Später kam es auch zum Austausch, wenn zum Beispiel Inge Lammel von der Akademie der Künste auf der Waldeck die DDR-Forschung über Arbeiterlieder vorstellte oder die Waldeck-Protagonisten auf dem 1970 von Andert ins Leben gerufenen Festival des politischen Liedes in Ostberlin auftraten. Der wesentliche Unterschied war, dass die Auseinandersetzung in der DDR auch eine mit der sozialistischen Traditionspflege zwischen altem Arbeiterkampflied und Becher/Eislers »Neuen Deutschen Volksliedern« war. Was den Westdeutschen die Abneigung des postfaschistisch-kulturindustriellen Schlagers war, war den Oktoberklublern die der sozialistischen Phrase. Was im Westen das »zeitkritische Lied« getauft wurde, brachte Andert, der im Zuge seiner Wende zum Marxismus auch in die SED eingetreten war, 1968 auf die später zur allgemeinen Selbstverpflichtung gewordene Formel »DDR konkret«: »Alltag besingen, wie er ist.«

Dieser Ansatz fand viel Anklang: »Die Welt in der Episode, augenzwinkernde Tiefgründigkeit – das ist Reinholds Methode«, beschrieb König das Lied »Blumen für die Hausgemeinschaft«. »Nach dem drittenmal Hören«, so Franz Josef Degenhardt in konkret, »hat man getickt, dass dieser Song (…) so viel an Information über die DDR bringt, wie man aus hundert Dönekens von Freunden und Genossen nicht bekommt.«

Dank der Aufmerksamkeit, die dem Oktoberklub im Zuge von »Der Oktoberklub singt« und den Dokumentarfilmen »Lieder machen Leute« (Gitta Nickel, 1968), »Song International« (Jürgen Böttcher, 1971) und »Rot sind unsere Lieder« (Werner Schmidutz, 1972) entgegengebracht wurde, fanden sich Nachahmer. Die »Singebewegung« verbreitete sich im ganzen Land. Schon 1972 existierten DDR-weit rund 2.500 Singeklubs. Der Oktoberklub blieb bis 1990 das Flaggschiff. Mit seinen insgesamt rund 200 Mitgliedern wurde er zum »Ausbildungsbetrieb« für eine Reihe von Künstlern wie Kurt Demmler, Bettina Wegner, Tamara Danz, Gina Pietsch, Jürgen Walter und Barbara Thalheim.

Weil nicht nur Andert, aus dessen Feder 1969 immerhin »Danke, weitermachen« zum 20. Geburtstag der DDR stammte, sondern fast alle Mitglieder des Oktoberklubs »hundertprozentig rot, überzeugt, ehrlich« waren, so Andert 1995, trug nun auch staatliche Förderung zum Erfolg der Singebewegung bei. So wurde Anderts erste, selbstbetitelte Solo-LP von 1973 sogar vom Bildungsministerium an allen Schulen verteilt, tauchten seine Lieder im Deutschbuch für die sechste Klasse auf, und erhielt der Oktoberklub 1970 den Preis für künstlerisches Volksschaffen.

Schon 1971 hatte die FDJ Andert gebeten, die Liedgruppe im Organisationskomitee der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten zu leiten. Für dieses 1973 in Ostberlin stattfindende »rote Woodstock« schrieb Andert gemeinsam mit Hartmut König den Text für die inoffizielle Festivalhymne »Wir sind überall«, dessen Entstehung am Vorabend des Festivals und im Wodkasuff im umgekehrten Verhältnis zu seiner auch internationalen Popularität mit Übersetzung in zehn Sprachen steht. Auch schrieb Andert mit »Der Tag der großen Arbeit« ein Lied für Angela Davis, die, nun in Freiheit, die US-Delegation beim Festival anführte.

In dieser Zeit wurden die Kompositionen aufwendiger. Typisch für das »DDR-konkret«-Lied dieser Zeit ist der Liedzyklus des szenischen Programms »Manne Klein« von 1972 über einen Einrichter in der DDR, aus dem auch Anderts berühmtes »Lied vom Vaterland« stammt. Von hieraus entwickelten sich dann die DDR-Liedtheater: von »Karls Enkel«, aus der dann später Wenzel hervorging, über die Gruppe »Schicht« bis zur »Brigade Feuerstein« mit Gerhard Gundermann.

Mit der staatlichen Förderung wurde es möglich, dass Andert bereits ab 1970 das Festival des politischen Liedes veranstalten konnte. In der Zeit bis 1980, in der er als einer der Cheforganisatoren fungierte, traten hier nicht nur die bekanntesten Liedermacher aus DDR und BRD auf. Das Festival stellte sozialistische Künstler aus der ganzen Welt vor, von Irak bis Bangladesch. Umgekehrt bereiste Andert als Teil des Oktoberklubs selbst die Welt: von der Sowjetunion und Kuba über die BRD und Österreich bis Schweden. Unter diesen Bedingungen gab er auch seine Hochschultätigkeit auf und lebte ab 1972 als freischaffender Künstler. 1973 verließ er die Band, um sich als Solokünstler der wachsenden Einmischung und Instrumentalisierung durch die FDJ zu entziehen. 1992 sagte er rückblickend, die »anfangs gute Polit-Kunst-Bewegung« sei »in der heftigen Umarmung der FDJ-Funktionäre erstickt.«

1973 erschien Anderts Solodebüt, das er nun bei Kabarettveranstaltungen, Gewerkschaftskonferenzen, in Universitätshörsälen, Jugendwerkhöfen und Kirchen, bei FDJ-Veranstaltungen und auch auf Staatsakten vortrug. 1974 folgte das Kinderlied »So ist ein Pionier«, 1978 dann die zweite LP »Ewald der Vertrauensmann«.

Ungnade

Als Anderts Töne kritischer wurden, wurde er – in der Eiszeit knapp drei Jahre nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 etwa zur gleichen Zeit mit den Ausschlüssen aus dem DDR-Schriftstellerverband – 1979 aus der Partei ausgeschlossen – und zwar offenbar auf Betreiben des damaligen Politbüromitglieds und Ersten Sekretärs der Berliner SED-Bezirksleitung Konrad Naumann, über dessen Liebschaft Andert »eigentlich mehr im Vorübergehen« (Hartmut König) gespottet hatte.

Alsbald wurde Anderts Ungnade auf die Probe gestellt: Erwin Burkert, ein befreundeter Regisseur, hatte ihn gebeten, für einen Dokumentarfilm über Ernst Busch ein Lied zu schreiben. Zunächst glaubte Andert, es gebe über die kommunistische Ikone kaum noch etwas zu sagen. Er stellte dann jedoch verblüfft fest, dass Busch Anfang der 1950er Jahre aufgrund seines »Proletkults« zwischenzeitlich mit Walter Ulbricht in Konflikt geraten war und erst später wieder zum gefeierten Künstler wurde. In seinem »Lied für Lin« erinnerte Andert daran und pries zugleich Buschs Schweigen im Interesse des größeren Ganzen: »Es gab eine Schlacht, es gab keinen Sieg / Und kein Lied, das wir darüber haben. / Er schwieg in Berlin, Moskau, Madrid, / Auf der Bühne, im Radio, im Graben. / Sein Schweigen war sauber, ehrlich und rauh, / Ohne falsches Gefühl, ohne Geigen./ Es traf den Ton unsrer Herzen genau, / Von ihm lerne singen und schweigen.« Busch soll das sehr gefallen haben. Als er am 8. Juni 1980 starb, wurde Andert von der Akademie der Künste – offenbar auf Buschs vorher geäußerten Wunsch hin – gebeten, sein Lied auf der Trauerfeier vorzutragen. Von Honeckers Büro wurde der Beitrag gestrichen. Erst durch die Androhung von Buschs Witwe, unter diesen Umständen dem Staatsakt fernzubleiben, wurde Anderts Lied doch aufgeführt.

Die 1980er Jahre waren für Andert und seine Familie schwere Jahre. Im Februar 1972 hatte er die Musikerin Sabine Andert geheiratet, im November kam der erste Sohn Jakob zur Welt. Sabine stammte aus einem kommunistischen Elternhaus. Ihre Mutter war eine Neulehrerin aus Hamburg. Ihr Vater war als SED-Mitglied »illegal« im geheimen »Westeinsatz« gewesen, um für ein neutrales Deutschland zu werben und den Protest für die Freilassung von Jupp Angenfort zu organisieren. Später reiste er zum Zweck der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch die Welt. Als Kind hatte Sabine schon auf Angenforts Schoß gesessen und ihm Briefe ins Gefängnis geschrieben. Es war ein großes Glück für die junge Familie, dass sie ab 1976 (und noch bis 2016) hauptberuflich als Cellistin im Orchester der Komischen Oper in Berlin und ab 1983 dazu als Dozentin an der Hochschule für Musik Hanns Eisler arbeitete.

Sabines Berufstätigkeit und die Unterstützung von Freunden wie Gundermann sicherten der Familie das Überleben, während es für Reinhold immer schwieriger wurde. Seine Spuren sind deshalb in den 1980er Jahren spärlich, auch wenn es nie ein offizielles Auftrittsverbot gab. Anderts Nachdichtungen des sowjetischen Liedermachers Wladimir Wyssozki, die bis dahin als unübertragbar galten, erschienen erst nach 1989. 1995 schrieb Andert in »Land unter«: »Offizielle Auftrittsverbote hatten sich als schädlich erwiesen, der Verbotene wurde so nur berühmt (…) Es funktionierte hervorragend, Tausende bewiesen Parteidisziplin. Die ›guten Freunde‹ wechselten bei meinem Anblick die Straße.«

Unter diesen Umständen musste Andert sich neu erfinden: Er füllte in der Staatsbibliothek »Lücken aus dem Geschichtsstudium auf« und begab sich mit dem Leiter des Thüringer Museums für Ur- und Frühgeschichte, Günter Behm-Blancke, auf die Spur des im Jahre 531 verschollenen Thüringer Königsschatzes, über den er das Buch »der Thüringer Königshort« schrieb, das aber zu DDR-Zeiten nicht mehr erscheinen konnte. Zugleich wies er mehrfach Angebote aus der BRD ab, auszureisen und »weich zu fallen«. Für Wolf Biermann und Stephan Krawczyk hatte er nur Verachtung übrig, weil sie in seinen Augen gezielt Ärger mit den DDR-Behörden suchten, um ihre Auflagen im Westen zu erhöhen: »Namhafter Publikumsliebling werden, ein schönes Haus, ein dickes Konto mit rübernehmen, von meiner Verfolgung erzählen und wieder viele Termine haben, wär schon was! Allerdings müsste ich dann viel essen, um entsprechend kotzen zu können.« Der Liedermacher, der auch nach 1989 am »Sozialismus und der Notwendigkeit einer gerechteren menschlichen Ordnung« festhielt, verstand sich nicht nur weiterhin als Kommunist. Er hielt auch am ersten Sozialismusversuch auf deutschem Boden fest und sah es nun »mit Bedauern, dass der Drang nach dem Westen immer größer wurde und es mit der DDR langsam zu Ende ging«. Zugleich konnte er gegen Ende der DDR hin wieder stärker öffentlich in Erscheinung treten. 1989 wurde er schließlich rehabilitiert, jetzt aber schon von der PDS. Parteimitglied wurde er nicht mehr.

Gespräche und Satiren

Der Zufall wollte es, dass Andert seit Anfang der 1980er Jahre mit Honeckers Tochter Sonja und deren exilchilenischem Mann bekannt war. Honecker selbst war er nur dreimal am Rande begegnet. Durch Sonja kam er aber nun im Frühjahr 1990 in Kontakt mit den Honeckers, die aus ihrem Haus in Wandlitz rausgeworfen worden waren und denen eine Zweizimmerwohnung in Lichtenberg zugewiesen wurde. Auf Anderts Wirken hin kamen sie schließlich im Mai 1990 in eine kirchliche Einrichtung nach Lobetal. Im Verlauf des nächsten halben Jahres begleitete Andert die beiden so eng wie niemand anders. Als er Honecker von seinen Schwierigkeiten in den 1980er Jahren erzählte, sagte der ihm: »Wärest du doch zu mir gekommen!« Aus den persönlichen Gesprächen entstand das mit Wolfgang Herzberg publizierte Buch »Der Sturz. Honecker im Kreuzverhör«, das sich 1990/91 mehr als eine viertelmillionmal verkaufte. Andert stellte sich darin in die Reihe der »Millionen von Menschen auf der ganzen Welt«, die »an den realen, nicht nur fiktiven Sozialismus« als »wirkliche Alternative zum Kapitalismus« geglaubt hatten.

Im Kontext der triumphalistischen Parole vom »Ende der Geschichte« gehörte schon Mumm dazu, die Aufassung zum Ausdruck zu bringen, dass die »gewaltigen Herausforderungen« bleiben, »auf die der Sozialismus zum Teil vergeblich nach Antworten suchte«. Andert und Herzberg gingen sogar soweit, sich auf die Position der Kommunistischen Plattform zu stellen und von Honecker zu behaupten, dass das »letzte Wort über die geschichtliche Verantwortung, die Leistungen und Grenzen dieses maßgebenden Politikers der deutschen Nachkriegsgeschichte, der das Experiment Sozialismus auf deutschem Boden fast zwei Jahrzehnte leitete, noch nicht gesprochen« sei.

Wie es zum Dialog mit den SED-Generalsekretär kam, schilderte Andert in »Nach dem Sturz – Gespräche mit Erich Honecker« (2001). Er beschrieb den Politiker als einen neuzeitlichen Wiedergänger des vormodernen Sündenbocks: »Ein soziales Experiment war missglückt. Die Rechnung war nicht aufgegangen, eine menschenwürdige Gesellschaft, seit Jahrtausenden erträumt, zu verwirklichen.« Dabei kritisierte Andert scharf die Privatisierung der volkseigenen Betriebe, als quasi »über Nacht die Schilder VEB durch GmbH oder GbR ausgewechselt wurden. Spürbar wurde der Wechsel der Eigentumsverhältnisse erst, wenn die Belegschaft auf die Straße gesetzt wurde und die neuen Besitzer mit den noch brauchbaren Maschinen und vor allem den Kundenkarteien gen Westen verschwunden waren.« Und weiter: »Wo lag denn jetzt, fragten sich viele, der Sinn ihres Lebens? Sie waren von einer ›entwickelten sozialistischen Persönlichkeit‹, einem Menschen, der durch die Arbeit seine Umwelt menschlichen Bedürfnissen anpasst und damit sein Wesen verwirklicht, zu einem nutzlosen Almosenempfänger und Konsumidioten herabgesunken.«

Sporadisch betätigte sich Andert weiterhin als Liedermacher. Auch teilte er sich in einem Ost-West-Duett die Bühne mit dem sauerländischen Kabarettisten Edgar Külow im Programm »Zur Lage der Nation«. Besonders aber entdeckte er die Satire. Nach der »Wende« schrieb er 1992 das Buch »Unsere Besten: Die VIPs der Wendezeit« über die vielen ostdeutschen Wendehälse in den Talkshows, Feuilletons und Parteien der westdeutschen Dominanzkultur, in deren Lebensläufen »nach der Geburt unmittelbar ihr Wirken nach dem Herbst 1989 folgte«. In bezug auf den nationalkonservativ-militaristischen Joachim Gauck, der später auf Vorschlag von SPD und Grünen Bundespräsident werden sollte, wies Andert darauf hin, dass »Gauck« das »altdeutsche Wort für ›Kuckuck‹« ist. Und über Angela Merkel urteilte er: »M. ist die dritte Ostperson, die es zu einem Ministerposten (…) gebracht hat.« Auch ihre »blitzsaubere Karriere in der Wissenschaft« beweise, »dass Nichtmarxisten in der DDR fast alle Möglichkeiten hatten. Weil das aber nicht sein kann, glauben heute viele, etwas erfinden zu müssen, das sie in die Nähe von Widerstand oder Verfolgung rückt.« Im Falle von Merkel sei das »besonders komisch«. Sie hatte behauptet, »dass ihr nach der Promotion zum Dr. rer. nat. ›ihre engen kirchlichen Bindungen in der sozialistischen DDR eine Beschäftigung im Lehrbetrieb an der Universität verbauten‹ und sich ihr ›nur eine Verwendung in der Forschung an der Berliner Akademie der Wissenschaften im Zentralinstitut für physikalische Chemie eröffnete‹«. Andert: »Die Arme! Für die etwas unkundigen Leser: Das Gegenteil ist wahr. Jeder Wissenschaftler, vor allem Naturwissenschaftler, strebte danach, dem impotenten Universitätsmief zu entkommen, um eine der begehrten, raren Stellen an der Akademie zu ergattern. Nur dort gab es Geld, Geräte, Publikationen und Visa.« Auch Biermann knöpfte sich Andert wieder vor und hielt ihm vor, seinen Umzug als Ausbürgerung inszeniert zu haben. Der Liedermacher schäme sich nicht einmal, sich über die vielen Künstler, die ihm seinerzeit beisprangen, lustig zu machen. Über eine von ihnen, Christa Wolf, schrieb Andert, dass ihm ihre »öffentlichen Selbstgeißelungen« Schmerzen bereiteten.

Ausschließlich positiv kam eigentlich nur Gregor Gysi weg, weil er »den von Bonn veralberten DDR-Bürgern Gerechtigkeit widerfahren« lasse, und »bisweilen auch andeutet, dass die Unfähigkeit, diese und künftige Probleme zu lösen, Systemcharakter« hat. Tatsächlich war Andert lange im Rahmen des Kulturforums der PDS aktiv, das Sabine Andert initiiert hatte, die von Gysi zeitweilig sogar in den Parteivorstand berufen worden war. Auch unterstützte Andert das »Antieiszeitkomitee« in und bei der PDS, das Sabine zusammen mit Arno Schmidt und Regina Scheer gegründet hatte.

Dass Geschichte auch anders hätte verlaufen können, ist von Alfred Anderschs »Winterspelt« über Tony Kushners »A Bright Room Called Day« bis zu Volker Brauns »Die hellen Haufen« ein zentrales Thema. Andersch schrieb einmal: »Geschichte berichtet, wie es gewesen, Erzählung spielt eine Möglichkeit durch.« Andert stellte die Verhältnisse 1994 satirisch auf den Kopf: Mit seiner »Revolutionschronik« »Rote Wende: Wie die Ossis die Wessis besiegten«: Die BRD tritt der DDR bei und die Vertreter der »CDU-Verbrecherorganisation« müssen im »Unrechtsstaat BRD« nun dafür geradestehen, dass sie »40 Jahre ca. 70 Millionen Menschen geknechtet, geschändet, ermordet, unterdrückt – moralisch, seelisch und körperlich kaputtgemacht« haben. Das »Oberste Gericht der DDR« verurteilt den »übriggebliebenen Rest (Kohl und Konsorten) als Totschläger.« Die CDU-PdS (Partei der Spendenskandale) entschuldigt sich alldieweil bei allen Opfern der »schändlichen Berufsverbote für demokratisch gesinnte Lehrer«, die nun die Stellen im Westen besetzen, damit »nicht alle neuen Direktoren aus dem bewährten Teil der DDR« kommen. Zugleich wird Franz Beckenbauer Trainer bei »Fortschritt Bischofferode«, muss sich Helmut Kohl ins Exil nach Paraguay absetzen, übernimmt Karl-Eduard von Schnitzler die Chefredaktion von Bild und Peter Palitzsch darf darüber berichten, »welchen Demütigungen und Verfolgungen er als Schüler von Bertolt Brecht in der ehemaligen BRD ausgesetzt war«. 1995 folgte mit »Land unter: Selten ein Schaden ohne Nutzen« das dritte, 1996 das vierte Satirebuch »Vom Saul zum Paul«, ein »Anpassungsfortbildungslehrgang auf freiwillig-demokratischer Grundlage«, sowie schließlich 1998 »Rügen oder das Ende der PDS«.

Nachdem zur »Wende« alles gesagt war, wandte sich Andert als Historiker des Frühmittelalters im Raum Thüringen/Sachsen-Anhalt wieder stärker der Forschung zu: Schon 1995 war sein Buch »Der Thüringer Königshort« erschienen. 2006 folgte »Der fränkische Reiter« über den Reiterstein von Hornhausen aus dem 8. Jahrhundert, 2013 »Heilige Lanzen«. Die im kritischen Geist verfasste Trilogie stellt immer wieder heraus, wie es »zahlenmäßig kleinen Eliten« schon damals gelungen sei, mit verschiedensten Mitteln »die Masse des Volkes« auszubeuten und sich das gesellschaftliche Mehrprodukt anzueignen. In »Heilige Lanzen« beispielsweise zeigt Andert, wie die ottonischen Könige ihre Herrschaft als gottgewollt darstellten, weil sie im Besitz der Waffe waren, mit der ein römischer Soldat einst Jesus am Kreuze malträtiert haben soll. Wie metallurgische Analysen herausfanden, war die Lanze jedoch in Wahrheit eine einfache Schmiedeproduktion aus dem achten Jahrhundert: »Ungerechte Herrschaft«, so Anderts Schluss, bedürfe »heiliger Lanzen«.

Heute arbeitet Andert an einem Band über den Bauernkrieg. Politisch hat er sich von der Geschichte des anhaltenden Kalten Kriegs nicht brechen lassen. Jeder neue Sozialismusversuch müsste mit aufrechten Menschen wie Andert sehr gut leben können und an sie erinnern. Barbara Thalheim formulierte dies in ihrem Lied »Biographien« (2002) über einen spanischen Kommunisten so: »Komm, leg’ den Film noch mal ein! / Aber von Anbeginn. / Sieh ganz genau hin, / Nimm die Einstellung fein! / (…) Und nichts zu bereuen, / Weder hier noch dort! – / Und müsst’ ich den Film / Heut’ noch einmal drehen, / Wär’n drin alle Szenen, / Alle Szenen zu sehen, / Nichts wäre geschnitten, / Darauf mein Wort!«

Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt in der Ausgabe vom 3./4. Februar über den marxistischen Historiker E. P. Thompson.

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  • Leserbrief von Thomas Seidel aus Chemnitz (1. April 2024 um 18:28 Uhr)
    Ingar Solty sei gedankt für einen wohltuenden Rückblick auf 80 Jahre Leben eines über alle gesellschaftlichen Brüche hinweg stets charakterfest und geradlinig gebliebenen Linken, ob mit oder ohne Parteibuch. Dass er Edgar Külow, einen Freund Anderts, als »sauerländischen Kabarettisten« beschreibt, mag seinen Grund darin haben, dass auch Solty im Sauerland geboren wurde. Aber bereits vor dem »Ost-West-Duett« nach der sogenannten Wende waren Edgar Külow und Reinhold Andert künstlerisch miteinander verbunden. Es war Egar Külow, der Reinhold Andert in eigene Bühnenauftritte integrierte und ihm so auch Gelegenheit auf Honorar bot. Das durchaus vorhandene Risiko eigener Ausgrenzung nahm Edgar Külow dabei in Kauf. Zwei Künstler mit aufrechtem Gang … Thomas Seidel, Chemnitz
  • Leserbrief von Arvid Loerke aus Oranienburg (29. März 2024 um 13:32 Uhr)
    Herr Solty ist Jahrgang 1979, wie ich aus Wikipedia erfahren habe. Die bedeutet, dass er die DDR-Verhältnisse nicht bewusst erlebt hat. Der Verfasser dieses Schreibens ist 19 Jahre älter, hat 29 Jahre in der DDR gelebt und erkennt in diesem Artikel die DDR nicht wieder. Dieser Artikel erinnert mich an die Tragikkomödie »Goodby Lenin«, in der ein junger Mann seiner schwerkranken Mutter eine DDR vorgaukelt, die es so nicht gegeben hat. Die DDR würde höchstwahrscheinlich heute noch bestehen, wären deren inneren Verhältnisse tatsächlich dergestalt, wie Herr Solty diese hier beschrieb. Nach den zwei Weltkriegen, war es völlig legitim ein sozialistisches Experiment auf deutschen Boden zu wagen. Doch ist dieses Experiment schiefgegangen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig, aber eine überaus wesentliche Ursache bestand darin, dass die Naumanns überall saßen, während die wenigen ehrlichen Genossen, nur geringe oder keine Einflussmöglichkeiten besaßen. Machtmissbrauch, Korruption, Gesetzlosigkeit waren allgegenwärtig und wer es wagte aufzubegehren, dem wurde sehr schnell und überaus drastisch deutlich gemacht, wer jenseits von Verfassung, von Recht und Gesetz, in diesem Land das Sagen hat. Dass dies heute auch nicht sehr viel anders ist, kann keine Rechtfertigung dafür sein. Man wollte es ja besser machen. Mit einem Wort; Ihr habts versaut, Genossen.
  • Leserbrief von Manfred Gehrling aus Eilenburg (27. März 2024 um 12:33 Uhr)
    Dass Leuten wie Andert Unrecht widerfuhr, trifft zu. Dem Ziel, der Rückkehr des Sozialismus, nähren wir uns aber erst, wenn jene in die Geschichte zurückgeholt werden, die nicht den Biermann oder den Krawczyk gaben: solche wie Brasch, Panach und Kunert.
    Solange sich jw Autoren aus nachvollziehbaren Gründen die Kleinbürgerlichkeit der DDR schönreden, werden Linke, die nicht die Breviers des Reformismus beten wollen, nicht auf die Füße kommen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred P. aus Hamburg (26. März 2024 um 13:40 Uhr)
    Noch ein linientreuer Dissident? Tausend Dank für diesen wunderbaren aufschlussreichen Artikel über Reinhold Andert, dem ein langes glückliches Leben zu seinem Wiegenfest zu wünschen ist. Fast möchte man sagen: hätten doch viele Funktionsträger der damaligen DDR mehr auf das gehört, was z. B. ein Wolfgang Harich oder Reinhold Andert uns beigetragen haben! Anthropologen verknüpfen bewusste Zielsetzungen, die auch noch den Anspruch wissenschaftlicher Begründung erheben – wie es für einen sozialistischen Aufbau von Gesellschaft notwendig ist – damit, dass allmählich das rein instinktgesteuerte Verhalten, das sich mit der Menschwerdung buchstäblich »abgearbeitet« hat, alle Wege freimacht zur Distanzgewinnung zu den Objekten. Menschen also nicht mehr nur reflexartig auf Neues reagieren, sondern die äußere Welt als menschengemacht und also veränderbar wahrnimmt. »Und wirkliche Erkenntnis bemerkt dann mehr als nur das vital Bedeutsame, sie ist a u f g e s c h l o s s e n f ü r d a s A n s i c h s e i n d e r g a n z e n R e a l i t ä t, (Hervorhebung im Original) was wiederum dem Ausbau der Arbeitsleistungen, nämlich dem Ausfindichmachen neuer Mittel, Wege und Umwege (!! Ergänzung - M.P.) zustatten kommt.« Traurig, dass dieser 1953 von W. Harich veröffentlichte Beitrag (Sinn & Form 6/1953,»Über die Empfindung des Schönen«), offenbar so wenig Widerhall z. B. bei dem SED-Funktionär K. Naumann ausgelöst hat. Dass Politiker und Intellektuelle mit bürgerlicher Weltanschauung gar nicht in der Lage sind, diese Zusammenhänge zu erkennen, zeigt sich in dieser Zeit ganz besonders in den Worten und Taten der Kriegstreiber aller Couleur. Die Folgen dieser ihrer Handlungen nicht abzusehen, verortet diese Art Spezies frei nach La Mettrie noch unterhalb des Tierhaften: »Welches Tier würde neben einem Milchstrom Hungers sterben?« »L' Homme machine«
  • Leserbrief von Konstantin Brandt (26. März 2024 um 12:41 Uhr)
    Liebe Themaredaktion, ich bedanke mich ausdrücklich für die heutigen Themenseiten über meinen persönlichen Bekannten Reinhold Andert. Dem Autor ist bei den Anfangsjahren der Singebewegung in der DDR leider ein kleiner Fehler unterlaufen:
    Der Beginn des Oktoberklubs war tatsächlich der Hootenannyklub. Er wurde aber Anfang 1966 im Hinterzimmer (Beratungsraum) von Siegfried Wein, Sekretär der Bezirksleitung der Berliner FDJ gegründet. Anwesende waren: Siegfried Wein, Marianne Oppel (DT 64), Perry Friedmann (Sänger und Banjospieler), Günter Görtz (Mitarbeiter der BL der FDJ und Konstantin Brandt (ebenfalls Mitarbeiter der Berliner BL der FDJ). Erster und jahrelanger Leiter des Klubs war Lutz Kirchenwitz. Er kam, wie einige Mitglieder, vom Theaterjugendklub der Volksbühne.
    Die ersten Hootenannies (gemeinsames Singen) fanden nicht im Kino »International« statt, sondern in dem damals noch existierenden »Zentralen Klub der Jugend und Sportler« in der Stalinallee/Karl-Marx-Allee statt.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Peter S. aus Berlin (26. März 2024 um 12:09 Uhr)
    Großartiger Artikel! Danke! Und auch Dank und Glückwünsche eines Lesers an Reinhold Andert !

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