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Aus: Ausgabe vom 15.03.2024, Seite 7 / Ausland
Hochschulreform

Studieren mit prallem Geldbeutel

Griechenland lässt private Unis zu – gegen die Verfassung. Ausbau des privatisierten Bildungssystems nach US-amerikanischem Modell befürchtet
Von Hansgeorg Hermann, Chaniá
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Teilnehmer einer Kundgebung gegen die Einrichtung von ausländischen Privatuniversitäten (Athen, 8.3.2024)

Griechenlands schulische Grundausbildung wurde bereits seit den Tagen der Militärdiktatur in den 1960er Jahren in den privatwirtschaftlichen Bereich abgedrängt und zum florierenden Geschäft gemacht. Nun sind, mehr als 50 Jahre später, auch die Hochschulen dran. Geschafft hat das der amtierende Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis. Obwohl die Verfassung es verbietet, setzte er nun auch in diesem Sektor sein seit 2019 Schritt für Schritt verfolgtes neoliberales Gesellschaftsmodell durch. Seine rechtsnationale Mehrheit im Parlament verabschiedete in der vergangenen Woche mit 159 gegen 129 Stimmen einen entsprechenden Gesetzestext. Der basiert auf einer »Reform der Berufsausbildung« und umgeht auf diese Weise das Verbot des Artikels 16 des »Syntagma«, der griechischen Konstitution.

Die wochenlangen Anhörungen und die Debatte im Parlament wurden von Protesten der Studierenden und ihrer Lehrer begleitet, die befürchten, dass höhere Bildung in Zukunft nur noch einer reichen Elite zugänglich sein wird. Zu Recht, meinen die linke politische Opposition und zahlreiche Professoren im In- und Ausland. Die Athener Tageszeitung Efimerida ton Syntakton bemühte Ende der vergangenen Woche sogar den deutschen Philosophen und emeritierten Universitären Jürgen Habermas. Der sagte dem Journalisten Theodoros Georgiou: »Griechenland hat sich mit der Verabschiedung dieses Gesetzes als europäische Denkfabrik und Schöpfer großer Ideen selbst erledigt. Es hat sich in einen vor-aufklärerischen Zustand zurückgezogen und sein Selbstbewusstsein als politische Gesellschaft verloren.«

Weniger prosaisch sahen die Studenten Mitsotakis’ Bildungsdiktat. Tausende protestierten zusammen mit ihren Professoren in den vergangenen Wochen auf dem Campus, ob in den beiden größten staatlichen Universitäten in Athen und Thessaloniki oder in den Straßen der Hauptstadt und vor dem Parlament. Ihr heftiger, auch physischer Widerstand gegen die Staatsmacht wurde – wie üblich – von Spezialeinheiten der Polizei niedergeknüppelt und im Tränengas erstickt.

Mitsotakis begründete seine von der Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) abgenickte Entscheidung im kapitalistischen Sinn: Die Gründung privater Universitäten werde »den Wettbewerb« im Hochschulbereich befeuern und internationale Investoren ins Land locken, die in der Tat längst auch ein Auge auf den Bildungsbereich geworfen haben. Dass nach Auskunft des Staatschefs zur Zeit rund 40.000 junge Griechinnen und Griechen »im Ausland« studieren und dort »wertvolle Devisen« verschleudern, müsse nicht sein. Das viele Geld könnten sie künftig zu Hause ausgeben. Eine einseitige Sicht der Dinge, wie Oppositionelle anmerkten: Rund eine halbe Million junge Menschen verließen in den vergangenen zehn Jahren vor allem deshalb ihre griechische Heimat, weil die dem Land aufgezwungene Austeritätspolitik – Streichung Tausender Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst und im Privatsektor, Lohnkürzungen, Einstellungsstopps – sie ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Zukunft beraubte.

Mitsotakis, Spross einer der reichsten Oligarchenfamilien des Landes, kopiert offensichtlich das US-amerikanische Hochschulsystem. Jenseits des Atlantik brauchen junge Menschen einen dicken Geldbeutel, wenn sie an teuren Turbouniversitäten studieren wollen. Ganz wie Mitsotakis, der sich Harvard-Absolvent nennen darf, weil er für seine Ausbildung dort – geschätzte – 100.000 Dollar bezahlen konnte.

Nie angegangen – weder von rechten Regierungsparteien noch von der linken Opposition – wurde ein Bildungsproblem, das in Griechenland alle Eltern und deren Kinder im normalen Schulalltag betrifft. Weil Lehrkräfte an Grundschulen und Gymnasien mies bezahlt werden und – auch aus diesem Grund – zu Tausenden fehlen, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine überaus profitable Bildungsindustrie etabliert: Private Nachhilfeschulen, sogenannte »Frontistiria«, die selbst den ärmsten Lohnabhängigen das Geld aus der Tasche ziehen dürfen, garantieren, was der Staat längst nicht mehr leisten kann: das Lernen von Fremdsprachen beispielsweise oder die Vorbereitung auf ein Hochschulstudium.

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