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Aus: Ausgabe vom 18.09.2014, Seite 3 / Schwerpunkt

Geschichten vom Überfluß

Der 1945 als Sohn eines Plastikfabrikanten in Denver, Colorado, geborene Jeremy Rifkin gehört seit mehreren Jahrzehnten zu den weltweit wichtigsten Stichwortgebern der in Feuilletons geführten Debatten über die Zukunft des Kapitalismus, des Umweltschutzes und der Arbeit. Der weithin als linksliberal geltende Intellektuelle zeigt sich im Nachwort seines aktuellen Buchs »Die-Null-Grenzkosten-Gesellschaft« voller Bewunderung für das kreative Potential des freien Unternehmertums: »In vielerlei Hinsicht sind Unternehmer die Künstler des Marktes, ständig auf der Suche nach neuen kommerziellen Narrativen, die ein Publikum zu faszinieren vermögen, die mit ihrer fesselnden Geschichte die Leute in das von ihnen erfundene Universum ziehen«. Mit solchen Geschichten wird man Talkshowgast bei Maybrit Illner und »Berater der Europäischen Union und von Staatsoberhäuptern und Regierungen in der ganzen Welt«, wie es auf dem Umschlag seines Buchs heißt.

Seit einigen Jahren vertritt er die Auffassung, Privateigentum und Kapitalismus würden aufgrund der rasanten Produktivkraftentwicklung in der Informationstechnologie in absehbarer Zeit gleichsam automatisch zu ihrem Ende kommen. »Diese Vorstellung aber ist illusionär und erinnert an Zusammenbruchshoffnungen, wie sie in der Arbeiterbewegung der II. Internationale um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufkamen«, schreibt Andreas Wehr in seinem Buch »Der europäische Traum und die Wirklichkeit. Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen«. Und weiter: »Alle geschichtliche Erfahrung zeigt aber, daß keine Bourgeoisie, weder in Europa noch irgendwo sonst auf der Welt, bereit ist, ihre auf dem Privatbesitz an Produktionsmitteln beruhende Macht freiwillig aufzugeben.«

Geschichten, nach denen Wohlstand für alle gleichsam naturwüchsig aus dem technologischen Fortschritt hervorgehe, sind im Interesse der Herrschenden. Die Ideologen des Silicon Valley fügen dem Märchen vom im und durch den Kapitalismus entwickelten Überfluß ständig neue Kapitel hinzu. So veröffentlichte Peter H. Diamandis, Gründer der von Google kofinanzierten Singularity University, schon 2012 das Buch »Abundance« (dt. »Überfluß. Die Zukunft ist besser, als Sie denken«). In dem im Jahr darauf erschienenen Buch »Radical Abundance« schildert Eric Drexler, wie Fortschritte in der Nanotechnologie in seinen Augen die gesamte Zivilisation verändern werden. Jeremy Rifkin steht für die linksliberale Spielart dieser Sorte von Literatur. Andreas Wehr bezeichnet das als Science-Fiction. Das stimmt, bedarf jedoch einer Ergänzung: Es handelt sich um schlechte Science-Fiction.

(thw)

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