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Aus: Ausgabe vom 04.05.2024, Seite 8 / Inland
Folterverdacht bei Abschiebung

»Sie ist nicht von selbst in seinen Mund geflogen«

Baden-Württemberg: Polizei soll Mann bei Abschiebung zum Tragen einer Metallschiene gezwungen haben. Gespräch mit Anja Bartel
Interview: Gitta Düperthal
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Sogenannte Hilfsmittel der körperlichen Gewalt darf die Polizei einsetzen (Symbolbild, Stuttgart, 30.11.2023)

Vor der Abschiebung vom Stuttgarter Flughafen am 12. März nach Banjul in Gambia soll Saikou K. auf einer Polizeiwache in Lauffen am Neckar eine Schmerzen verursachende Metallschiene eingesetzt worden sein, die ihn sprechunfähig machte. Der Vorwurf wiegt schwer. Wie haben Sie von dem Fall erfahren?

Zunächst: Der Fall wurde von einer ehrenamtlich für uns tätigen Person an uns herangetragen, die von Unterstützern in Gambia davon erfahren hatte. Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg hat sich dann mit verschiedenen Stellen vernetzt, um herauszufinden, was genau passiert war. So etwa mit der Geflüchtetenselbstorganisation Solidarity Movement, Solimo, in Berlin, die direkt mit Saikou in Kontakt war und zu seinem Fall eine Petition gestartet hatte. Wir haben beim Abgeordnetenbüro der Linke-Politikerin Clara Bünger nachgefragt, die den Fall in die Fragestunde des Bundestags eingebracht und Politikerinnen in Baden-Württemberg auf den Fall aufmerksam gemacht hatte. Und wir haben uns an die Beratungsstelle »Leuchtlinie« gewandt, die in Baden-Württemberg im Fall von rassistischer Gewalt berät. Schließlich kontaktierten wir das für Abschiebungen zuständige Regierungspräsidium Karlsruhe.

Welche Belege liegen Ihnen vor?

Der uns vorliegende Polizeibericht klammert die Episode der Metallschiene aus. Saikous Zeugenbericht besagt, er sei zur Polizeistation nach Lauffen gegangen, wo es zu Meinungsverschiedenheiten mit der Polizei kam. Ihm sei nicht angekündigt worden, dass er zu dem Zeitpunkt abgeschoben wird. Er habe seinen Anwalt verständigen wollen, was ihm aber untersagt worden sei. Dann sei ihm die Metallschiene von Menschen in Uniform angelegt worden. Uns liegt der ärztliche Bericht aus Gambia vor, dass ihm nach der Ankunft dort die Metallschiene herausoperiert werden musste. Aus Sicht der Ärztinnen muss dringend nachgeforscht werden, weshalb ihm diese eingesetzt wurde. Ein Video und ein Foto der Schiene mit Stacheln daran liegt vor.

Auf Nachfrage von Clara Bünger in der Fragestunde des Bundestags soll das Bundesinnenministerium das Verwenden einer schmerzenden Mundschiene dementiert haben. Mit solchen Behauptungen solle die aus dessen Sicht »eigentlich komplikationslose Abschiebung« in Misskredit gebracht werden, hieß es.

Es ist dringend geboten, detaillierter nachzuhaken. Die Schiene ist ja nicht von selbst in Saikous Mund hineingeflogen. Sie muss ihm zu irgendeinem Zeitpunkt eingesetzt worden sein. Es muss geklärt werden, ob das Ziel darin bestanden haben könnte, ihn so für die Abschiebung gefügiger zu machen. Es hat ihn darin gehindert, weiter mit der Polizei zu debattieren, zu insistieren, einen Anwalt hinzuzuziehen. Nach Aussage der Ärztinnen in Gambia hat es das Sprechen erschwert.

Ist juristisch zu klären, was geschah?

Es ist die Verantwortung des Bundesinnenministeriums, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Polizei kann nach aktuellem Recht von sogenannten Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt Gebrauch machen. Sollte sich bewahrheiten, dass sie folterähnliche Instrumente nutzt, um Abschiebungen durchzusetzen, wäre das ein Skandal.

Gehen Sie davon aus, dass das Vorgehen der Polizei möglicherweise kein Einzelfall ist?

Der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von Clara Bünger ist zu entnehmen: Vom 1. Januar bis 1. Oktober 2023 waren insgesamt 869 Personen von Zwangsmitteln betroffen, 124 aus Gambia. Ein Bericht des Antifolterkomitees des Europarats 2019 hatte Beamte der Bundespolizei für das Zufügen von Schmerzen kritisiert, »zum Beispiel durch Quetschen der Genitalien« und das Einschränken der Atmungsfähigkeit, um »kooperatives Verhalten« bei der Abschiebung zu erreichen. Aus unserer Sicht ist grundsätzlich jede Art von Abschiebung ein Akt der Gewalt. Unabhängig davon, ob die Polizei Zwangsmaßnahmen ergreift: Menschen werden gegen ihren Willen in einen anderen Ort verfrachtet. Nicht alle Menschen sind davon gleichermaßen bedroht, deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger werden in ihrem Leben etwa vermutlich nie in diese Situation kommen. Rassistische Strukturen ziehen sich durch alle unsere Lebensbereiche: auch bei der Polizei.

Anja Bartel ist Koleiterin der Geschäftsstelle des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg in Stuttgart

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