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Aus: Ausgabe vom 04.05.2024, Seite 6 / Ausland
Aufstieg der Rechten

Grausamere Weltordnung

Serie Aufstieg der Rechten (Teil 4 von 7): In Großbritannien lauert in der regierenden Tory-Partei eine aggressive ultrarechte Fraktion
Von Ben Chacko
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Premierminister Rishi Sunak (2. v. r.) und andere Tory-Abgeordnete im House of Commons (London, 13.3.2024)

Am 9. Juni wird das EU-Parlament neu gewählt. Das nehmen wir zum Anlass für eine Serie, die sich mit dem Aufstieg extrem rechter Kräfte in Europa beschäftigt. Die siebenteilige Reihe erscheint in Zusammenarbeit mit der dänischen Zeitung Arbejderen, der schwedischen Wochenzeitung Proletären und dem britischen Morning Star. Die Beiträge werden in allen vier teilnehmenden Zeitungen veröffentlicht. Ben Chacko ist Chefredakteur der britischen Tageszeitung Morning Star. (jW)

Innenminister James Cleverly ist an dem Tag nach Italien gereist, an dem der berüchtigte Plan der britischen Regierung, Asylsuchende nach Ruanda abzuschieben, im Unterhaus verabschiedet wurde. Cleverly verglich London mit seiner »Stoppt die Boote«-Politik mit der italienischen Regierung, die maßgeblich dazu beigetragen hatte, dass die EU die Such- und Rettungseinsätze im Mittelmeer mit Abschaffung der »Operation Sophia« im Jahr 2019 einstellte. Rom ist Vorreiter bei der Kriminalisierung ziviler Such- und Rettungseinsätze, indem es die Besatzungen von Rettungsschiffen wie der »Iuventa« wegen Zusammenarbeit mit Menschenhändlern anklagt, wenn sie auf See Leben retten. Im Herbst war diese Allianz durch einen gemeinsamen Artikel der britischen und italienischen Regierungschefs, Rishi Sunak und Giorgia Meloni, in der Times unterstrichen worden. Darin verpflichteten sich beide, gemeinsam gegen Einwanderung nach Europa vorzugehen.

Die Annäherung der Konservativen Partei an die europäische extreme Rechte ist nicht neu. Unter David Cameron hatte sie 2009 den wichtigsten rechten Block im EU-Parlament, die Europäische Volkspartei, verlassen und sich mit extremeren nationalistischen Kräften zusammengeschlossen, um den Block der »Europäischen Konservativen und Reformisten« zu gründen. Diesem gehören faschistische Parteien wie die Schwedendemokraten, die Lettische Nationale Allianz und die Bulgarische Nationalbewegung an. Die liberale Meinung in Großbritannien bringt den Rechtsnationalismus mit dem Brexit in Verbindung. Doch Cameron war ein Befürworter des Verbleibs in der EU. Und wie die aktuelle Verbindung der Tories mit Meloni zeigt, spielen die Konservativen weiterhin eine Rolle bei der Förderung der extrem rechten und einwanderungsfeindlichen Politik in Kontinentaleuropa.

Zwei Seiten einer Medaille

Das britische Wahlsystem macht es kleinen Parteien extrem schwer, den Durchbruch zu schaffen. Politische Bewegungen von links und rechts, die anderswo in Europa neue oder ehemals marginale Parteien wie die griechische Syriza oder La France insoumise auf der Linken bzw. Spaniens Vox oder die AfD auf der Rechten in den Vordergrund drängten, haben sich in Großbritannien innerhalb der beiden großen Westminster-Parteien abgespielt. So kam ein sozialistisches Wiederaufleben ab 2015 in der Labour-Partei durch die Führung von Jeremy Corbyn zum Ausdruck. Die wichtigste politische Heimat des extrem einwanderungsfeindlichen Nationalismus ist die Konservative Partei.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Rolle der »aufständischen« rechten Kräfte irrelevant ist. Die größte ist heute »Reform UK«. Sie ist aus der Brexit-Partei bzw. der United Kingdom Independence Party (UKIP) hervorgegangen. Reform UK, die in den Umfragen regelmäßig bei zwölf bis 13 Prozent liegt, droht mit dem früheren Tory-Abgeordneten Lee Anderson bei den Parlamentswahlen einen Teil der konservativen Stimmen auf sich zu versammeln. Die Partei verbindet Antieinwanderungspolitik mit Rassismus gegen etablierte nichtweiße Gemeinschaften. Anderson hatte die Tories übrigens verlassen, nachdem er suspendiert worden war, weil er behauptet hatte, dass die Solidaritätsmärsche für Palästina zeigten, wie London von Islamisten übernommen worden sei.

Nur wenige glauben, dass Reform UK zu einer parlamentarischen Kraft größeren Ausmaßes werden wird: Die Gefahr liegt einzig und allein in den engen Verbindungen ihrer führenden Persönlichkeiten zur Spitze der Konservativen sowie in den sichtbaren Bemühungen der Tories, mit ihr um rassistische Stimmen zu konkurrieren. Die Labour-Partei wiederum betrachtet den Aufstieg von Reform UK mit Selbstgefälligkeit, da die wahrscheinlichste Auswirkung auf die Wahlen darin besteht, dass die Stimmen der Konservativen schrumpfen. Aber ernsthafte Sozialisten müssen auf die Rolle achten, die Reform UK bei der Ermutigung des harten Flügels der Rechten in der Konservativen Partei spielt, der bereits unter einem schwachen Premier aufbegehrt und sehr wahrscheinlich die Führung übernehmen wird, sollten die Tories die nächsten Wahlen verlieren.

Die harte Rechte nährt sich derweil von den Ängsten, die durch das scheiternde Wirtschaftsmodell Großbritanniens entstehen, um Stimmen für eine »systemfeindliche« Politik zu gewinnen. Der Lebensstandard sinkt, die Reallöhne sind seit 15 Jahren geschrumpft. Der Anteil der Löhne am Sozialprodukt ist seit mehr als 40 Jahren rückläufig, während der Anteil der Profite und Renditen gestiegen ist. Dies ist eine unmittelbare Folge des neoliberalen politischen Kurses aller Regierungen seit Margaret Thatcher. Ebenso die Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen, die jetzt in bröckelnden Schulen, einem öffentlichen Gesundheitssystem mit einer Warteliste von über sieben Millionen Behandlungen, kollabierenden Verkehrs- und Postnetzen sowie dem Zusammenbruch von Dienstleistungen der lokalen Behörden durch Massenschließungen von Bibliotheken, Schwimmbädern usw. sichtbar wird.

Sündenbock gesucht

Der Brexit wurde der Öffentlichkeit als Mittel zur »Wiedererlangung der Kontrolle« verkauft, was er hätte sein können, wenn er von einer linken Regierung durchgeführt worden wäre – zum Beispiel, indem sie die Privatisierungspolitik der letzten 40 Jahre rückgängig gemacht hätte, was innerhalb der Regeln des EU-Binnenmarktes schwieriger zu bewerkstelligen ist. Da jedoch weiterhin eine neoliberale konservative Regierung im Amt ist, wurden alle Maßnahmen, die den Lebensstandard senken, fortgesetzt und sogar beschleunigt. Weil aber die Tories an der Macht sind, können sie nicht wie sonst die Regierung für die Probleme verantwortlich machen. Statt dessen argumentieren sie, dass der Regierung durch verschiedene internationale Abkommen die Hände gebunden seien. Deshalb sei eine feindselige Haltung gegenüber der Europäischen Menschenrechtskonvention und gegenüber britischen Gerichten aufgekommen, die versuchen, die Einhaltung des internationalen Rechts bei der Behandlung von Flüchtlingen durchzusetzen.

Aber auch dies muss als das internationale Projekt der Rechten gesehen werden, das es ist: Gemeinsam mit anderen europäischen Staaten arbeiten sie daran, die nach der Niederlage des Faschismus und der Gründung der Vereinten Nationen aufgestellten Regeln zu zerstören, um eine neue, grausamere Weltordnung zu entwickeln, die der Ära der internationalen Konflikte entspricht, die laut den zuständigen Ministern nun bevorsteht. Die ultrarechten Tories zerreißen nicht nur das Regelwerk zum Thema Flüchtlinge. Sie arbeiten daran, im eigenen Land eine neue Normalität zu schaffen.

Die Regierung hat eine ganze Reihe autoritärer Gesetze verabschiedet, um die zügellose Polizeigewalt zu verstärken und Proteste einzuschränken (»Police, Crime, Sentencing and Courts Act«, »National Security Act«, »Public Order Act«), und sie hat versucht, wirksame Streiks zu verbieten. Der Bankrott der öffentlichen Dienste soll sowohl den Weg für weitere Privatisierungen ebnen als auch die Erwartungen der Bürger an die Regierung in einer Zeit senken, in der der Kapitalismus keinen steigenden Lebensstandard mehr bieten kann. Vieles an diesem Projekt wird von allen politischen Parteien in Großbritannien geteilt: Die Labour-Partei will die jüngsten autoritären Polizeigesetze beibehalten und weigert sich, die notwendigen Investitionen in Betracht zu ziehen, um die öffentlichen Dienstleistungen wieder auf Vordermann zu bringen. Da dies garantiert, dass der Lebensstandard weiter sinken wird, werden Sündenböcke gesucht, und eine hasserfüllte Politik, die sich gegen Einwanderer und andere Minderheiten richtet, wird weiter um sich greifen.

Es gibt eine sozialistische Alternative, für die es in unseren Zeitungen jeden Tag zu kämpfen gilt. Aber wie wir an der Art und Weise gesehen haben, wie Corbyns sozialistisches Projekt im Zusammenhang mit dem Brexit aus den Fugen geraten ist, wird sie nur Gehör finden, wenn sie aufständig und systemkritisch bleibt. Die Anpassung an den Status quo (in diesem Fall durch Unterstützung der EU) dagegen ist für die Linke lähmend, da sie die echte Wut nicht mehr kanalisieren kann. Aus diesem Grund wird die Wahl einer rechten Labour-Regierung den Aufstieg der extremen Rechten nicht aufhalten. Nur einer kämpferischen, klassenbewussten sozialistischen Bewegung, die die wahre Ursache der Probleme der Menschen im Kapitalismus und den wahren Feind in den Reichen sieht, kann dies gelingen.

Übersetzung aus dem Englischen: Marc Bebenroth

Lesen Sie am Montag: Hansgeorg Hermann über die faschistische Rechte in Frankreich

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  • Leserbrief von Anke Rössig aus Zürich (5. Mai 2024 um 22:37 Uhr)
    Beim intensiven Verfolgen der Serie über den »Aufstieg der Rechten« in Europa von Schweden bis Italien, die sehr interessant und informativ ist, und in der Kooperation unserer jW mit anderen linken Medien wie »Arbejderen«, »Proletären« etc. zu wichtigen aktuellen Themen unbedingt weitergeführt und auch unter Einbeziehung anderer europäischer linker Medien (z. B. »Solidaire«; »Friheten«) ausgebaut werden sollte – wie auch im Verfolgen des Livestreams zur »Verteidigung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit« – fällt mir auf, das Österreich und die Deutschschweiz als Verbreitungsgebiet unserer jW in beiden Fällen keine Berücksichtigung finden. In beiden Ländern ist gleichfalls ein bemerkenswert starker Rechtstrend zu konstatieren. Es gibt aber auch hier in beiden Staaten trotz der erdrückenden totalen Dominanz reaktionärer konservativ-christlicher und nationalistischer Medien sowie bieder-bürgerlicher Lokalblätter marxistische, kommunistische, sozialistische und andere progressive antikapitalistische linke Print- und Online-Medien, denen die jW im redaktionellen Austausch von Beiträgen Raum geben kann, auch wenn man in Einzelfragen vielleicht nicht immer die gleiche Auffassung vertritt. Aber eben dieses kann auch befruchtend, dem Verständnis einer anderen linken Sichtweise, dem Meinungsaustausch nur förderlich sein. Das reicht in der Schweiz zum Beispiel von der »WOZ – Die Wochenzeitung« über den »Vorwärts« und der »P.S. – Die linke Zürcher Zeitung« bis zur »Roten Anneliese (Rote Analyse)«, in Österreich von der »Zeitung der Arbeit« und dem Monatsmagazin »Volksstimme« bis zu »Unsere Zeitung – Die Demokratische«. Und zugleich kann die jW zur weiteren Verstärkung ihres Bekanntheitsgrades die Medien im gegenseitigen Interesse nutzen. Hier liegen noch viele Reserven ungenutzt seitens unserer jW, die als einzige linke deutschsprachige TAGESzeitung unverzichtbar ist und links engagierte Leser in der Schweiz und in Österreich möchten sich nicht vernachlässigt fühlen.

In der Serie Aufstieg der Rechten:

Die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind am 9. Juni aufgerufen, das EU-Parlament neu zu wählen. Aus diesem Anlass berichtet die junge Welt vom Aufstieg extrem rechter Kräfte in verschiedenen europäischen Ländern. Im Rahmen dieser Serie werden sowohl Artikel als auch Interviews und Analysen veröffentlicht.

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