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Aus: Ausgabe vom 04.05.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kurzfilmtage Oberhausen

Dialog ist nicht alles

Oder die anstrengende Frage, wie das Kind in der Wanne bleibt: Die Kurzfilmtage Oberhausen diskutieren Kunst- und Meinungsfreiheit
Von Manfred Hermes
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Empörung über Empörung: Die 70. Oberhausener Kurzfilmtage im Zeichen des Gazakrieges (1. Mai 2024)

Kurz nach dem Hamas-Überfall auf Israel im Oktober letzten Jahres forderte Lars Henrik Gass, der Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen, in einer auf Facebook veröffentlichten Solidaritätsnote zur zahlreichen Teilnahme an proisraelischen Demonstrationen auf. Die empörte Reaktion rief selbst Empörung hervor. Da auch der Name des Stadtteils Neukölln gefallen war, wurde gleich »Menschenfeindlichkeit« usw. insinuiert. Ein anonym lancierter Aufruf skandalisierte Gass’ schnelle, wenn vielleicht auch etwas unüberlegte Intervention und kritisierte, übrigens ganz verrechtlicht denkend, auch die Verwendung des Festivalservers zu diesem Zweck. Es folgten Boykottbekundungen Zigtausender Filmemacher, selbst Filmverleiher schlossen sich dem an. Das waren keine schönen Aussichten für den immerhin 70. Jahrgang dieses Festivals vom 1. bis 6. Mai 2024, zumal die von Israels Gaza-Kampagne ausgelöste Polarisierung auch die eigenen Reihen betraf.

»Kunst« versus »Kultur«

Das alles erforderte auf jeden Fall eine Antwort: »Dialog«, »Debatte« und Podiumsdiskussionen sind die üblichen Formen für solche Verständigungen. Doch war es unter den gegebenen Umständen auch auf dieser Ebene schwierig, den Fakt der Abschottung jeweiliger Meinungs- und Haltungsmilieus zu überwinden, das heißt Panels wunschgemäß zu besetzen. So kam es, dass am Mittwoch ein Bazon Brock in seiner einleitenden Keynote den Titel der parallel zum Festival ausgerichteten Tagung, »Sehnsucht nach Widerspruchslosigkeit«, auf die höhere Ebene einer Betrachtung zog, die die letzten 600 Jahre seit der ersten Formulierung von Kunst und Künstlertum als autonome und selbstverantwortliche Entitäten (»in Florenz«) einbezog, verantwortlich danach eben auch in einem strafrechtlichen Sinn – womit die aktuelle Oberhausener Situation der anonym ausgelösten Kollektivsanktion mitgemeint war. Mit der ihm immer noch eigenen Verve versuchte Brock, »Kunst«, Logos, Aufklärung wieder anzueignen und gegen »Kultur« und deren »Blabla« in Stellung zu bringen. Feinere Einwände aus dem Bereich eines eher zeitgenössisch geprägten Institutswissens, wie sie die Filmwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg vortrug, drangen so wenig durch.

Es zeigte sich außerdem, dass »Sehnsucht nach Widerspruchslosigkeit« ein vielleicht naheliegender Rahmen war, aber dann doch keiner Realität entspricht, die ja eher zur unbedingten und beliebig aktivierbaren Gegenrede neigt, welche sich dabei generationell abgrenzt und damit so gut wie unüberwindbar ist. Aus der allzu lebhaften Moderatorin Ute Cohen sprudelten nicht nur kapitalismuskritische Floskeln, es gelang ihr auch nicht, den Ausgangspunkt dieser Veranstaltungen transparent zu halten.

Das geschah dann allerdings während des abendlichen Eröffnungsakts. Hier kamen sowohl die Kommune (Bürgermeister), das Land (Ministerin für Kultur und Wissenschaft) und auch der Bund (Amtschef der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien) ihrem schönen Auftrag nach, nicht nur wie Löwen für die Freiheit der Kunst einzutreten, sondern natürlich auch die zuletzt so häufig bemühte »deutsche Staatsräson« noch einmal zu unterstreichen, das Existenzrecht Israels betreffend. Nebenbei wurde dabei allerdings auch, wie es bei solchen Anlässen üblich ist, die öffentliche Matronage der Künste als Faktor eines Abhängigkeitsverhältnisses in größtmöglicher Deutlichkeit erkennbar.

Eine Verfallsgeschichte

Des weiteren hatte sich Gass allerdings auch die Frankfurter Soziologin Alexandra Schauer für ein Gespräch auf die Bühne geholt. Deren Buch »Mensch ohne Welt« beschreibt eine Verfallsgeschichte der Öffentlichkeit und der öffentlichen Räume der »Spätmoderne«, mit ihrer Analyse könne man sich auch der veränderten Situation von Filmfestivals zu nähern versuchen, denen ja auch ein guter Teil früherer Funktionen abhanden gekommen sei, vor allem wegen: »dem Internet«.

Die anderntags aufgeworfene und polemisch zu verstehende Frage »Wozu Festivals?« war leider wieder ungeschickt mit dem Begriff »Universalismus« und damit gegen »woke« und »Identitätspolitik« gerahmt. Allerdings befasste man sich diesmal vor allem, historisch erhellend, mit den großen westdeutschen Veranstaltungsgründungen der Nachkriegszeit wie Documenta, Berlinale und eben der Kurzfilmtage, die einerseits heute fast Ewigkeitscharakter besitzen, andererseits unübersehbar in der Krise stecken.

Blasse Postulate

In Einrichtungen wie einem Festival sammelt sich allerdings auch viel Expertise und Erfahrungswissen. Es gibt außerdem Budgets, Jobs, Infrastruktur, was seinerseits Beharrungskräfte erzeugt, aber auch Veranstaltungen wie diese möglich machen. Trotzdem ist ein Zusammenbruch nun zumindest vorstellbar. Wie man von der Berlinale weiß, kann sich das Erodieren allerdings lange hinziehen und die Bedeutungslosigkeit auch hart erkämpft sein. Der politische Anspruch kultureller Veranstaltungen könnte sich schließlich in gellendem Agitprop ausleben oder sogar einfach mit CO2-Neutralität, repräsentationeller Gerechtigkeit oder der Bestimmung diverser antidiskriminatorischer Verhaltenscodes begnügen.

Dass aber »Dialog« und »Diskussion« allein nicht alle, wenn nicht gar keine Probleme lösen werden, war auch nicht zu übersehen. Das blieb in dem Dilemma spürbar, dass eine Abwehr gegen das allzu aufgeblasene und selbstgerechte Politisieren in Kunstbereichen Gefahr läuft, Kinder mit Bädern auszuschütten und etwa wieder mit Kriterien wie »gute Kunst« zu kommen, oder wie Brock das bürgerliche Verantwortungssubjekt zurückzusehnen. Selbst unbestrittene Postulate wie das der ästhetischen Sphäre als Sonderbereich und Schutzgut blieben, da ohne Konkretion und bei ebenfalls erodierender Basis, blass. Trotz solcher Einwände: Diese Serie von Panels, Podien, Diskussionsrunden war ein beachtenswerter Teil dieser 70. Oberhausener Kurzfilmtage. Ein Filmfestival ohne Filme, das geht also auch.

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  • Leserbrief von Ilona Albrecht aus Grünheide (5. Mai 2024 um 16:03 Uhr)
    Zwei Wegweiser für eine Gedenkstätte – Beispiel KZ Buchenwald, Artikel jW 04./05.05.2024 Die Verklärung der Vergangenheit ist ein sehr bekanntes Mittel der bürgerlichen Medien seit 1990. Das wissen wir alle. Das gilt auch für die Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg. Deutschland hat diesen von ihm angezettelten Aggressionskrieg ohne Wenn und Aber verloren. Das immer wieder zu relativieren oder vergessen machen zu wollen, führt zu der jetzt so kriegsgefährlichen Situation. Wie sollen damalige Opfer und deren Angehörige damit umgehen? Wir waren 1991 mit unseren Kindern im KZ Buchenwald, um ihnen die Verbrechen der Faschisten zu zeigen. Schon damals waren die Darstellungen und Beschreibungen dazu sehr verharmlost gegenüber der Ausstellung von 1968. Wir waren erschrocken, denn von Mahnung war nur noch wenig geblieben. Wo ist 2023 die Verantwortung für die historisch bewiesenen Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen geblieben? Wundert sich etwa noch jemand, wenn sich Bürger ganz leicht nach rechts verbiegen lassen? Wacht auf, Verdammte dieser Erde! Bitte.
  • Leserbrief von Frank Lukaszewski aus Oberhausen (5. Mai 2024 um 08:40 Uhr)
    Es sei erlaubt, dem Verfasser für weitestgehend interessante Zeilen zu danken. Hinsichtlich genannter Eröffnungsworte zu den 70. Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen seitens politischer Akteure dürfte vielleicht wertend eingeworfen werden, dass sich genannter Berliner Amtschef inhaltlich als auch intellektuell von Frau Ministerin und Herrn Oberbürgermeister positiv abhob. Blickwerfend auf den vom Autor erwähnten Diskurs mit der der Frankfurter Schule verbundenden Soziologin Scheuer könnte man ergänzend mitnehmen: In Bezug auf den rasanten Medienwandel rissen die Beteiligten zwar Facetten von (Aus-)Wirkungen (beispielsweise des Internets) auf eine sich stets ändernde und damit definitorisch ständig neu zu fassende Öffentlichkeit an. Die Perspektive der Mediennutzung (salopp formuliert: Wie nutzen Menschen eigentlich jene sich verändernden Angebotsoptionen aktiv?) fand dagegen recht stiefmütterliche, also eigentlich keine Erwähnung. Dem passiven Rezipienten als Öffentlichkeit schenkte man Beachtung, nicht aber dem aktiven Medien- und damit auch Kunstnutzer.

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