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Aus: Ausgabe vom 29.04.2024, Seite 7 / Ausland
Proteste gegen Gazakrieg

Die Stimmung kippt

US-Protestbewegung gegen Israels Kriegführung im Gazastreifen breitet sich aus. Repression wirkt fördernd
Von Knut Mellenthin
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Studentenprotest gegen Israels Krieg in Gaza am Sonnabend an der George Washington University in Washington

Die drastische Repression und Hetze gegen die antizionistischen Proteste an ungefähr 40 US-Universitäten führt zu deren Festigung und Ausbreitung. Der Effekt ist mit fast wissenschaftlicher Präzision vorauszuberechnen und erinnert an die Proteste gegen den Vietnamkrieg in den 1960er und frühen 1970er Jahren. Ob daraus über einen längeren Zeitraum etwas Nachhaltiges entsteht, ist – zumal vor dem Hintergrund des Fehlens theoretisch und praktisch handlungsfähiger linker Organisationen in den meisten westlichen Ländern – bestenfalls eine offene Frage. Die enormen Impulse, die vor über 50 Jahren von den Protesten gegen den Vietnamkrieg der USA und von der damit engstens verbundenen internationalen Studenten- und Jugendbewegung ausgingen, erschöpften und verloren sich mit der Zeit.

In der vergangenen Woche wurden an mehreren Universitäten der USA, darunter an einigen der »angesehensten« und »elitärsten«, also karriereträchtigsten, durch gewaltsame Polizeieinsätze improvisierte Zeltlager auf dem Campus und teilweise auch die symbolische Besetzung einiger Fakultäten und Institute aufgelöst. Hunderte von Teilnehmerinnen und Teilnehmern, gewiss nicht ausschließlich Studierende, wurden dabei festgenommen. Das übliche Wort in englischsprachigen Medien für diesen Vorgang, das auch in Deutschland meist übernommen wird, ist »verhaftet«. Es geht in Wirklichkeit aber um vorübergehende Festnahmen, die zunächst einmal eine logische Voraussetzung und Folge der Polizeieinsätze sind. Haftbefehle, für die ein richterlicher Beschluss notwendig wäre, werden bei derartigen Vorgängen in der Regel nicht ausgestellt. Das schließt nicht aus, dass gegen Festgenommene polizeiliche Ermittlungen eingeleitet werden, die auch zu Strafverfahren führen könnten.

Die Wirkung dieser Einsätze, die mit mehr oder weniger brutaler körperlicher Gewalt, Einschüchterung, Demütigungen und Beleidigungen seitens der Polizei einhergehen, kann als wissenschaftlich erforscht angenommen werden. Staatsapparate sind in der Registrierung, Auswertung und Archivierung solcher Zusammenhänge nicht schlecht. Immer sind sie sehr viel besser als ihre Gegner, bei denen viele Erfahrungen nicht an die nächste Generation weitergegeben werden, sondern weitgehend verlorengehen und erst wieder aus aktuellen Veranlassungen neu gesammelt werden müssen.

Jedenfalls: Für Hunderte junger Menschen ist die direkte Konfrontation mit der Polizeigewalt und ihre Festnahme eine erstmalige, mindestens für einige Zeit prägende Erfahrung. Ganz kurz ist dieser Vorgang meist nicht. Vermutlich gibt es in der Regel eine Personalienerfassung, respektlose und übergriffige Behandlung, auch ein mehrstündiger Zwangsaufenthalt in Sammelzellen kann hinzukommen. Eine Protestbewegung, die gute Gründe hat und auch schon mehrere Monate lang existiert, wird durch Repression auf dieser Ebene nicht gestoppt, sondern erhält mehr Zulauf und wird sich besser organisieren. Das wissen die, die die Repression anordnen – dass viele am vorderen Bühnenrand agierende Politiker wie lächerliche Idioten wirken, sollte uns nicht täuschen –, und das kalkulieren sie als Kollateralschaden ein. Es muss also aus ihrer Sicht wirklich brennen, wenn sie jetzt so gegen die antizionistische Protestbewegung vorgehen.

Hintergrund ist, dass die Stimmung in den USA – und vermutlich nicht nur dort – gekippt ist. Im Land des mit weitem Abstand wichtigsten und zuverlässigsten Verbündeten Israels gibt es zum ersten Mal Umfragemehrheiten, die dessen Kriegführung im Gazastreifen missbilligen. Das ist ein Durchschnittswert, der das Problem eher zu harmlos erscheinen lässt. Wichtiger ist: Unter den Anhängern der regierenden Demokraten liegt der Anteil der Kritiker bei 75 Prozent. Sogar noch wichtiger: Junge US-Amerikaner neigen mehr der palästinensischen als der israelischen Seite zu.

Ein starkes Bündnis aus den Republikanern und fast allen relevanten jüdischen Verbänden will die Entwicklung beeinflussen. Sie setzen nicht auf Argumente, was ihnen tatsächlich nicht helfen würde, sondern auf Repression. Direktorinnen und Direktoren der »angesehensten« Universitäten wurden und werden erheblich unter Druck gesetzt, die Polizei auf den Campus zu holen. Die Würfel sind geworfen.

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