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Aus: Ausgabe vom 04.05.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Der Tod am Ende der Zeit

Eine Kriminalnovelle
Von Hagen Bonn
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Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um den Beginn der bislang unveröffentlichten Kriminalnovelle »Der Tod am Ende der Zeit« von Hagen Bonn. Das ganze Werk finden Sie unter: kurzelinks.de/EndeDerZeit (jW)

Eine Vorzeige-LPG wenige Jahre vor dem Ende der DDR. Fortschritt und einige Problemlagen geben sich täglich die Klinke in die Hand. Und mittendrin treffen wir auf junge Leute am Beginn ihres beruflichen Weges. Alle Widersprüche der Gesellschaft finden wir geronnen in ihren Schicksalen. Und wenn wir ihr Leben und Leiden in dieser Kriminalnovelle verfolgen, dann tun wir das aus der Perspektive des Scheiterns, aus der Sicht jener, die wissen, wie sich die sogenannte Wende und Kolonialisierung Ostdeutschlands auf den ländlichen Raum ausgewirkt hat. Das Wort Katastrophe kann nicht einmal annähernd die Zerstörung, die Verelendung und Verheerung benennen, die seit 1990 wie ein Wirbelsturm durch die Dörfer, Felder und Ställe zogen und keinen Stein auf dem anderen ließen.

Die wohl fortschrittlichste und erfolgreichste Land- und Viehwirtschaft der Welt, und um nichts anderes handelte es sich in der DDR, existiert seit mehr als drei Jahrzehnten nicht mehr. Aber die Erinnerung muss wachgehalten werden, wenn wir mit den Helden des Deutschen Bauernkrieges ausrufen: »Geschlagen kehren wir nach Haus, die Enkel kämpfen’s besser aus.«

Die Novelle fußt auf authentischen Begebenheiten. Die Personen und der Handlungsrahmen sind literarisch gestaltet, wurden aber von tatsächlich stattgefundenen Vorkommnissen abgeleitet.

Außerdem wird dem Leser ein umfangreicher Anhang präsentiert, der die konkreten Auswirkungen der Konterrevolution in der Landwirtschaft nach 1989 beispielhaft und authentisch nachzeichnet. (H. B.)

1

Die Geschichte weht über die letzten schweren Ähren des Roggens. Goldgelb steht er im Feld. Von der Wurzel her leiht er sich Kraft und Glanz, der Stengel spürt nach dem Wind und gibt sich ihm hin, gern, denn im Schwanken steht er am liebsten, will die Körner bewegen, dass sie lachen wie Kinder auf einem Karussell. Aber die Ähre, die feierliche, winkt den Menschen zu, dass es Zeit ist, Zeit für das Feld. Es ist Zeit, das Zelt abzubrechen. Der Herbst greift nach dem Zepter.

Der goldene Bogen der Felder windet sich am Fluss entlang, dankt für den Trank, dankt für das silberne Spiel des Wassers, wenn es über die Steine und Kiesel huschte, die nächste Biegung schon im Blick. Hinten, weit hinten, da blickt das goldene Band des Roggens auf die Berge, das satte Grün unter dem stahlblauen Himmel. Jedoch, nun ist es Zeit zu ruhen, Kräfte zu sammeln, den Herbst zu bitten, dass er donnere, ihnen neue Wasser schickt und Zeit. Zeit, die sich im Frost verliert und die Vögel verreisen lässt. Die winken zum Abschied mit den Flügeln, winken den Menschen, die sich jetzt Mützen aufsetzen. Oder dem Igel, der sich schlafen legt, nicht ahnend, dass eine junge Hornissenkönigin, unlängst befruchtet, auf den Mai wartet, nicht weit von ihm liegt. Denn sie muss ruhen, bevor sie regieren darf.

Die Jahreszeit regiert die Wesen der Natur. Aber des Menschen Jahreszeit ist die Geschichte. Von dieser sei hier ein Ausschnitt erzählt.

2

Die Dörfer Trebendorf und Birkhalde hatten einen gemeinsamen Bahnhof, der genau in der Mitte der Ortschaften lag. Wenn man dort ausstieg, lief man entweder die zwei Kilometer nach Trebendorf im Westen oder zwei Kilometer nach Osten, wo sich Birkhalde befand.

Der Zug fuhr zum einen in die Kreisstadt und dann noch etwas weiter in die Bezirksstadt, aber dort angekommen, zögerte er nicht lange und kam über die Kreisstadt zurück zum ländlichen Halt zwischen Birkhalde und Trebendorf. Diese zwei Dörfer und die beiden größeren Verwaltungszentren lagen fast wie auf einer Perlenschnur gereiht unlängst der Gleise. Wollte man aber an diesem Landbahnhof weiter in die Natur, blieb nur noch ein einziger Halt, »Waldfriede« nannte sich die letzte Haltestelle, die zugleich als Wendepunkt angelegt worden war. Einmal in der Stunde machte sich der Zug von »Waldfriede« zurück auf den Weg in die Bezirksstadt und schloss den Kreis, der natürlich eine fast gerade Strecke war.

Eine Ansiedlung suchte man in »Waldfriede« vergeblich, aber ein dichtes Netz aus Wanderwegen führte ins »Hohe Land« südlich unserer Perlenkette und bestand aus einem kleinen Mittelgebirge mitsamt dem »Großen Birkhalder Wald«. Obenauf gab es zwei runde Gipfel, den »Lauterstieg« und den etwas höheren »Überstieg«. Wenige Fichten, aber sehr viele Buchen, Eichen und Ulmen ragten in dichter Anstellung aus dem fruchtbaren Boden.

Von dort oben übersah man das gesamte »Hohe Land« und das sich dahinter nach Norden ausbreitende »Wiesenland«.

Wenn wir uns die Perlenkette noch ein wenig genauer anschauen, dann sehen wir südlich von Trebendorf und Birkhalde noch den »Osterfluss«, der sich eng unter der Kette entlang windet. Am Bahnhof gibt es deswegen auch eine würdige Steinbrücke, die den Weg für Fußgänger, landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge der LPG und die Gleise der Deutschen Reichsbahn bereitet.

Ach, fast hätten wir beim Wendepunkt »Waldfriede« etwas unerwähnt gelassen, denn von dort bot sich noch eine gänzlich andere Route. Die zum Trebendorfer See, der, vom Osterfluss gut gespeist, wegen seiner Kühle und Reinheit bekannt und von Badegästen geschätzt wurde.

Nun zu den Leuten dort. Was waren denn das für Menschen, welche Eigentümlichkeiten fanden sich in deren Seelen? Welche Spuren hatte diese Mischung aus flachen Wiesen und bergigen Wäldern in ihnen hinterlassen? Und welchen Beitrag leisteten die modernen ländlichen Genossenschaften? Das Wort »Knecht« war allen, wenn wir von den Kindern einmal absehen, bestens bekannt. Allerdings war der Titel schon seit Jahrzehnten gründlich abgeschafft worden.

Was war nun mit den Menschen hier? Man würde zuerst urteilen, sie allesamt seien völlig normale Leute. Leute, die miteinander schnatterten, lachten und vor allem arbeiteten. Die meisten übrigens in der LPG. Diese Leute hätten vielleicht auf unsere Frage geantwortet, nun, wir sind halt die, die auf der einen Seite Wald und Berge als ihre Heimat kennen, und die auf der anderen Seite, mit dem Fluss und den flachen Wiesen, noch mal eine ganz andere Heimat parat haben. Hat nicht jeder, oder?

Trebendorfer nannte man seit jeher »Hochländer«, und die Birkhaldner bezeichneten sich selbst als »Wiesenländer«. Warum dieser Unterscheidung eingeführt wurde und wann, liegt im Dunkeln. Objektiv betrachtet waren beiden Orte ungefähr gleich weit an den Wiesen wie an den Bergen gelegen. Auch eine gewisse Rivalität zwischen den Orten konnte hier und da festgestellt werden. Zur Kirmes, beim Fußball und zur Faschingszeit. Rivalität bedeutete in etwa eine Schlägerei beim Bier nach dem Fußball oder dass man sich gegenseitig als »Sauvolk« beschimpfte.

Heiratete zum Beispiel ein Hochländer eine Wiesenländerin, gab das mehr Anlass zu Zerknirschtheit, als man es anderenorts für möglich hielt. Als wenn, so der Gastwirt vom »Schwarzwild« am Bahnhof, ein Kaktus einen Luftballon küssen wollte!

Nach wenigen Wochen ebbte die Aufregung, die sowieso mehr Folklore war als ernsthafte Zwietracht, wieder ab, und man verlor stillschweigend einen Sohn oder eine Tochter an den einen oder den anderen Ort, wenn sich herausstellte, wo das Paar seine Wohnstatt einrichtete. Der oder die Neue war jedenfalls sofort ein willkommener »Neubürger« bei den Hoch- oder Wiesenländern. In der Regel wurde man sogar mit Geschenken überhäuft. Wie passte all das nur zusammen? Ja, so tickten die eben.

3

Ein Weg aus Betonplatten, ein Weg aus Regen und Wind und ein Weg der Unlust, des Widerstands, denn es war Montag, und Till betrat das Gelände der LPG. Der Stallgeruch störte ihn nicht, auch nicht die Rufe der Kühe, denen wahrscheinlich langweilig war. Till mochte Tiere, im Gegenteil zu manchen Menschen. Etliche verstanden ihn nicht, und er hatte meist kein Interesse an Menschen, was ihn dann noch sonderbarer erscheinen ließ. Dabei hegte er nicht einmal an sich selbst sonderliches Interesse.

Rechts vom Großen Weg die Unterkünfte. Zwei Altneubauten, beide erst kürzlich mit einem neuen Dach versehen, weil der letzte Herbststurm des vergangenen Jahres mitten ins Gebälk griff und große Teile davon abhob und von sich warf. Erst vor einer Woche gab es einen »Sondereinsatz«, um den Ziegelbruch im Umkreis einzusammeln. Mit fast zweihundert Metern Abstand zum Haus konnte ein halber Dachziegel geborgen werden, der seither beim Vorsitzenden in einer Vitrine in seinem Büro aufbewahrt wurde.

Wocher, Vorsitzender dieser LPG, war ein Ordnungsfan, was Gott sei Dank sein einziger Spleen war, wie die Kollegen wussten. Till verstand weder, was ein Spleen war, noch was einen Ordnungsfan ausmachte. Fan ist die Abkürzung von Fanatiker, überlegte er, und Fanatiker waren in der Antike, vor allem in Rom, Menschen, die von Gott ergriffen wurden, also beseelt auf sich aufmerksam machten. Er beendete seine Gedanken, weil er die Begriffe nicht auf Menschen anwenden konnte. Till war klar, dass es keinen Gott gab, und er wusste, dass zum Beispiel Fußballfans dumme Idioten waren. Das wusste er deshalb, weil sie ohne Sinn laut krakeelten, vielleicht betrunken waren und nicht erklären konnten, warum sie einer Mannschaft zujubelten und einer anderen nicht. Ihre Erklärungen dazu waren hohl und ohne jede Ernsthaftigkeit oder gar Logik.

Till wohnte im Haus 1, dem Ledigenwohnheim. Gegenüber wohnten vorwiegend Lehrlinge, die Hälfte aus dieser LPG, die andere von der nahegelegenen Broilermast und dem Ausbesserungswerk der Reichsbahn in der Kreisstadt. Da er seit zwei Wochen seinen Facharbeiter hatte, und Wocher ihn schon seit Mai bekniete, doch hier als Koch anzufangen, stimmte er nach einem Gespräch mit seinem Opa zu.

Vor allem die Einraumwohnung, möbliert, fünfzig Mark Miete, so tönte sein Opa Max vor drei Wochen, sei schon grob ein Lottogewinn! Till zuckte mit den Schultern, verließ die Wohnung des Alten und klopfte bei Wocher in der Thomas-Müntzer-Straße in Trebendorf an die Tür.

  • Wocher: Mensch Junge, was ist los? Hast du’s dir überlegt?

  • Till: Ja, eben.

  • Klasse! Wann willst du einziehen?

  • Morgen?

  • Nee, mach mal bis Mittwoch alles fertig. Der Meißel kommt dann um sieben Uhr mit dem Multicar vorgefahren und hilft dir.

Das Wochenende hatte er bei Opa Max verbracht. Sie hatten im Garten zu tun, spielten Schach und hörten Fußball im Radio. Till war für den BFC Dynamo. Nein, er war kein Fan. Es war eben die beste Mannschaft der Republik, das reichte ihm als Grund. Was sollte es auch einen anderen geben? Dresden, alle Achtung. Rot-Weiß Erfurt, na ja, einer muss wohl verlieren … Er war also kein Fan, er registrierte Ergebnisse; Ergebnisse, die aus Spielzügen entsprangen. Spielzüge waren eingeübte Mannschaftsroutinen. Und aus diesen Routinen ergab sich die Chance zum Ausbruch. Jemand, ein Individuum, spähte wie ein Jäger, der aus der Sippe ausschert, nach einer Gelegenheit, die nur er sah, nur er, weil die Gruppe ihn dorthin geführt hatte. Jetzt musste er mehr werden als die Gruppe. Und die Gruppe musste ihm folgen, erkennen, dass er etwas sah, ihm vertrauen. Und das war das Schicksal des Stürmers. Oder der Speer in der Seite des Rehs! Das war der Mensch, ein Motor aus Gemeinschaft und Einzelwesen. Einem Einzelwesen, das nichts ist ohne seine Übernatur, die Gesellschaft, dort, wo er zu Hause ist.

In der Umkleide der Frauen nebenan ging es hoch her. Warum der Transportarbeiter nicht einfach »Wolle« hieß, wusste Till nicht. Ein »Gekicher und Gegacker«, maulte der »fette Wolle«, ein Mann, der den ganzen Tag mit einem Transportwagen herumfuhr und die Küche versorgte. Mit Tiefkühlkost, Holzkisten voller Gemüse, Fleisch und all den tausend Sachen, die man in einer Küche benötigte. Er brachte auch Reinigungs- und Desinfektionsmittel oder frische Handtücher oder eben die Wäsche für die Köchinnen, die Frauen am Imbiss oder eben für Till, der als einziger Mann in Weiß hier seine Karriere begann.

Dieser Montag war erst der zweite seiner Karriere, und er hätte es nicht für möglich gehalten, in eine so moderne Küche zu stolpern. Die Kessel wurden alle mit Dampf beheizt, die kleinen und großen Kipper mit Strom, ebenso die Kochfelder. Die HKU war nagelneu, der Wolf ein Riesenmonstrum, man konnte fast ein halbes Schwein darin versenken. Unschlagbar auch das Rührgerät! Das Ding hatte die Größe zweier Badewannen! Einzig ein kleinerer Rundkessel in der Kindergartenküche schien älterer Bauart, wurde aber auch mit Dampf betrieben. Allerdings war er derzeit defekt, er heizte nur bis siebzig Grad. Als Till aber die Spülmaschine sah, kannte seine Begeisterung keine Grenzen. Man steckte die Teller auf ein Rollband und zwei Meter weiter, kam das Geschirr blitzblank und fast schon trocken wieder heraus. Freilich, hier wurden dreihundert Leute versorgt, davon die Hälfte aus der LPG. Hier aßen zudem die Leute von der Broiler-KIM, zwei Handwerkstrupps, die als mobile PGH unterwegs waren, und die Trebendorfer Verwaltung. Die Küche selbst belieferte zwei Schulen, zwei Kindergärten (deshalb die Kindergartenküche) und ein Altenheim. Insgesamt wurden knapp siebenhundert Mittagessen zubereitet. Und in der Spätschicht immerhin noch mal siebzig. Aber das erledigte die Abteilung Imbiss in ihren eigenen Räumen.

Der Imbiss, er war eine Art Wurmfortsatz des großen Essensaals, der nur durch ein großes Treppenhaus von der Großküche getrennt war. Er sorgte sich bei durchgehender Öffnungszeit um das Frühstück oder die Nachmittagspause. Kaffee, Tee, Brause, Kola oder eben belegte Brötchen in allen Variationen. Bockwurst, Wiener, Kartoffelsalat. Und eben das »Mittag« für die Spätschicht. Auch hier fielen Till fast die Augen aus, als er die Kaffeeautomaten sah. Mit denen konnte man eine ganze Kleinstadt sofort mit Kaffee versorgen, natürlich ohne Anstehen.

Sein Missmut von eben war verflogen, so wie er jeden Morgen verflog. Das Aufstehen gegen vier Uhr war sicherlich der Grund für seine allgemeine Übellaunigkeit, aber wenn er dann die Küche betrat und die weißen Fliesen strahlten ihn an, war sein Kopf wie ausgespült und glänzte mit. Sein Blick wanderte dann über die Arbeitsbereiche, die man alle einsehen konnte, denn die Wände waren nur zu einem Drittel aus Beton, nach oben hin war nur noch Glas. Dem gleich die Außenwand. Der gesamte Komplex war mit einem Glasband umschnürt! Ob im Essensaal, im Imbiss oder in der Großküche, man hatte immer freien Blick nach draußen.

An seinem ersten Tag führte ihn Wocher persönlich durch »seine« LPG. Till wusste, dass dies hier wohl die gepflegteste LPG der Republik sein musste, die Leute sprachen oft davon und waren ziemlich stolz darauf. Opa Max meinte einmal, man könne auf dem Großen Weg eine Herz-OP durchführen, so »pico­bello« sei es da. Der Große Weg ging schnurgerade durch die LPG, von Nord nach Süd. Natürlich in der Mitte. Das Nordtor erreichte man über den »Oberdorfenweg« und das Südtor über den »Unterdorfenweg«. Die Eingeborenen sagen meist O-Weg oder U-Weg.

Zwischen diesen Wegen lag also die LPG mit samt zweier großer Wiesen. »Wiese 1« und »Wiese 2« ragten fast bis an die Kreisstadt heran, hingegen »Wiese 3« auf der südlichen Seite des Osterflusses lag und schließlich durch den Lauterstieg und den Überstieg begrenzt wurde.

Till sah zwar erstaunt auf die vielen Gebäude, beschloss aber, sich nicht die Mühe zu machen, die Namen abzuspeichern. Entenstall, zwei Kükenställe, Breiter Stall, Mastviehanlage …

Einzig das Zentrallager wollte er sich merken. Wer weiß, wahrscheinlich gab es dort alles, und irgendwann würde er dort hingeschickt werden. Vielleicht, wenn der fette Wolle krank war? Den Transporter mochte er nicht besonders, er war faul, und Till hatte letzten Freitag beobachtet, wie er eine leere und gereinigte Sauerkrauttonne durch die Küche spazieren fuhr und alles in die Tonne warf, was er für nötig hielt. Als er Tills fragenden Blick sah, scheute der fette Wolle nicht, ihm mitzuteilen, er ginge »einkaufen, nur eben ohne zu bezahlen«. Margarinewürfel, Butter, mehrere Flaschen Milch, Würste aller Art. Till war völlig schockiert. Hatte der dicke Mann einen Witz gemacht? Till kannte sich mit Humor überhaupt nicht aus, sein Opa meinte einmal, er solle sich mal mit dem Wort Ironie beschäftigen. Dann erklärte er es ihm auch, aber Till zuckte mit den Schultern.

  • Opa Max: Weißt du noch gestern, da hast du die Milch beim Frühstück verschüttet, und ich sagte zu dir: »Das hast du ja wieder toll gemacht!«

  • Till: Und was ist die Ironie dabei, Opa?

  • Ist das dein Ernst? Ist Milch auf den Tisch verschütten etwa toll?

  • Nicht? Ich dachte, es hätte dir gefallen.

  • Warum sollte es denn?

  • Das musst du doch wissen, Opa. Also?

  • Ich gebe es auf.

Wenn es Zapp in seinem Kopf machte, fühlte sich das nicht gut an, so wie eben, als er spürte, irgend etwas erwarte Opa Max von ihm. Dann knisterten seine Gedanken, weil er grübelte, was zu tun oder zu sagen wäre. War demnach alles, was einen Zapp auslöste, Ironie oder Humor? Eigentlich war es ihm egal, aber da sein Opa der beste Mensch der Welt war, schließlich hatte er ihn nach dem Tod seiner Eltern bei sich aufgenommen, probierte er es noch mal.

  • Opa, sag noch ein Beispiel.

  • O. k., wie heißt du?

  • Was?

  • Wie heißt du?

  • Das ist Ironie?

  • Nein, Junge! Antworte einfach, dann kommt die Ironie. Also, wie heißt du?

  • Äh … Till.

  • Na, das habe ich ja gar nicht gewusst!

  • Natürlich weißt du das, was erzählst du denn da?

Opa Max schüttelte den Kopf und verließ grummelnd die Küche Richtung Garten. Till schaute ihm nachdenklich nach. Sollte der Alte wirklich seinen Namen vergessen haben?

Hagen Bonn, Jahrgang 1968, ist Sozialfachwirt und lebt in Berlin. Er schreibt regelmäßig im Feuilleton dieser Zeitung. Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle die Science-Fiction-Story »Sondermission Teresch 43–63«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. (5. Mai 2024 um 08:37 Uhr)
    Großartig! Sehr gern gelesen, sehr schön wider den Strich gebürstet.

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