04.03.2024 / Inland / Seite 4

Fehlalarm auf Wagenplatz

Berlin: Großaufgebot von Polizei und Staatsschutz durchkämmt Vereinsgelände von FIPS – und vermutet dort Exmitglieder der Ex-RAF

Oliver Rast

Für gewöhnlich kommen sie mittwochs, halbwegs entspannt, irgendwann morgens: Fahnder staatlicher Verfolgungsbehörden. Anders Sonntag früh in Berlin-Friedrichshain. Kurz nach halb Acht Hektik im alten Arbeiterbezirk. Betty Schmidt (Name geändert) ist zeitig wach, auch an Ruhetagen: »Ich habe eine Zigarette am Küchenfenster geraucht«, erzählt die 33jährige Anwohnerin gleichentags im jW-Gespräch. Zunächst traute sie ihren Augen nicht: Kolonnen von Polizeifahrzeugen im Gewerbegebiet am Markgrafendamm, direkt vor dem Eingang zum Verein FIPS, einem Wagenplatz. Sie zieht weiter am Glimmstängel, schaut sich das Spektakel unter ihrem Fenstersims an, schnippt die Asche ab, drückt die Kippe kurz vor dem Filter aus – und setzt sich an den Rechner. Auf sämtlichen Kanälen der Aufmacher: »Terroralarm!«, »Schüsse, flüchtige RAF-Mitglieder gesucht!« Ein Fehlarm, wie sich später herausstellen sollte.

Was war passiert? Rund 130 Einsatzkräfte durchkämmten seit den Morgenstunden das Areal an den Gleisen am S-Bahnhof Ostkreuz. Eine konzertierte Staatsschutzaktion des Landeskriminalamts Niedersachsen im Verbund mit Beamten des Bundeskriminalamts und der Berliner Polizei. Mittenmang ein Spezialeinsatzkommando. Mit ganz großem Besteck, einem sogenannten sondergeschützten Offensivfahrzeug Marke »Enok 6.2«; ein Polizeipanzer für besondere Anlässe.

Die Gesuchten: Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg, vermeintliche Aktivisten der Roten Armee Fraktion (RAF). Die bundesdeutsche Stadtguerilla gibt es zwar seit 1998 nicht mehr. Gefahndet wird dennoch seit Jahrzehnten weiter, auch wegen einiger Geldbeschaffungsaktionen in den Jahren 1999 bis 2016. In den vergangenen Tagen kolportierten Kriminaler, Staub und Garweg könnten sich in Berlin oder im brandenburgischen Umland der Hauptstadt aufhalten. Bereits am vergangenen Montag hatten Zielfahnder des niedersächsischen und Berliner LKA Daniela Klette in einer Wohnung in Kreuzberg geschnappt. Das Trio gilt den Ermittlern gewissermaßen als letzte Generation der RAF.

Die 65jährige wurde zur leitenden Staatsanwaltschaft nach Verden, südöstlich von Bremen, verbracht. Dort erhielt sie einen Haftbefehl. Klette soll unbestätigten Berichten zufolge aktuell in der größten niedersächsischen Haftanstalt für Frauen, in Vechta, sitzen. Bisher wird die mutmaßliche Exstadtguerillera nach jW-Informationen von einer Pflichtverteidigerin aus Verden vertreten. Für den »Tag der politischen Gefangenen« am 18. März plant ein Kreis von solidarischen Personen eine Kundgebung vor der JVA Vechta, übrigens einem früheren Franziskanerkloster.

Auch sonst, der Fahndungseifer scheint ungebrochen – samt Aufrufen zur Denunziation. Am Samstag veröffentlichte das LKA Niedersachsen eine Fotostrecke. Die Bilder zeigten »mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Burkhard Garweg«, hieß es. Die Ablichtungen sollen zwischen 2021 und 2024 entstanden sein. Darauf ist der vermeintliche Ex-RAFler etwa mit zwei Hunden zu sehen. Die Fotos würden belegen, »dass der Beschuldigte Garweg ganz offensichtlich unter einer Legende gelebt hat«, wurde Oberstaatsanwalt Koray Freudenberg am Sonntag auf NDR.de zitiert. Ferner könne nach LKA-Erkenntnissen davon ausgegangen werden, dass der 55jährige und Klette persönlichen Kontakt hatten.

Ins Visier ist zudem die Rote Hilfe e. V. geraten. In einer Erklärung zur Festnahme von Klette hatte die größte deutsche Solidaritätsorganisation die »jahrzehntelange Verfolgungswut und das staatliche Rachebedürfnis« angeprangert. Grund genug für Redakteure des Tagesspiegel-Podcasts »Checkpoint« am Freitag darüber zu spekulieren, die Roten Helfer könnten Klette im Untergrund geholfen haben. Belege? Nichts dergleichen.

Zurück zur »Antiterrorfahndung« auf der Wagenburg. Laut einer Behördensprecherin vom Sonntag wurden zehn Personen vorläufig zur Identitätsprüfung festgenommen – und wieder freigelassen. Kein Staub, kein Garweg also. Wobei: Das LKA Niedersachsen bestätigte nachmittags einen ­Spiegel Online-Bericht, nachdem Garweg eine Zeitlang in einem alten Bauwagen auf dem Gelände gewohnt habe.

Und Beobachterin Schmidt, wie hat sie die Szenerie vom komfortablen Fensterplatz aus gesehen? »Was für ein Aufriss, für Sachen, die 30 und mehr Jahre zurückliegen.« Nein, verharmlosen wolle sie nichts, aber wie viel Gefahr soll von Personen im fortgeschrittenen Rentenalter für wen ausgehen, fragt sie. Und überhaupt: »Können die Verfolgten ihren Lebensabend nicht einfach im Untergrund verbringen«, will die Anwohnerin weiter wissen.

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