4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 23.04.2024, Seite 12 / Thema
Italienische Linke

Die besiegte Kommunistin

Vom Versuch, die Linke zu erneuern. Vor 100 Jahren wurde die italienische Journalistin und Schriftstellerin Rossana Rossanda geboren
Von Ingar Solty
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Ein Rossana Rossanda (23.4.1924–20.9.2020) gewidmetes Wandbild in ihrer Geburtstadt Pula (Kroatien)

Die Basis für den Kommunismus als westeuropäische Massenbewegung war der Kampf gegen die faschistische Besatzung. Dies gilt vor allem für Frankreich und Italien. In Frankreich wächst »die Partei der 75.000 Hingerichteten« von 30.000 Mitgliedern in den 1930er Jahren auf eine halbe Million im Jahr 1945. In Italien wächst die Mitgliedschaft der Partei innerhalb von nur einem Jahr von 15.000 auf 1,7 Millionen. Bald ist sie eine der weltweit größten kommunistischen Parteien.

Der Erfolg der italienischen Kommunisten geht auch auf ihre Eigenständigkeit zurück. Schon ihr Vorsitzender Palmiro Togliatti, Gramscis langjähriger Weggefährte, betonte sie. Togliattis Nachfolger Enrico Berlinguer verstärkte diesen »italienischen Weg zum Sozialismus«. Auch seine linken innerparteilichen Gegner um Pietro Ingrao, Rossana Rossanda und Lucio Magri vertraten einen solchen Kurs. Die Italienische Kommunistische Partei (PCI) richtete ihre Politik nicht (ausschließlich) an der Sicherheit der UdSSR aus. Rossana Rossanda sagte, das Erfolgsrezept sei gewesen, dass im PCI »noch gestritten und diskutiert« wurde.

Partei, von der nichts übrigblieb

Nach 1989 blieb von dieser stolzen Partei trotzdem nichts übrig. Sie verlor nicht nur Mitglieder und Wähler, sondern auch ihren Namen, ihren Charakter. Sie glaubte, die Bezeichnung »kommunistisch« und das alte Programm seien Hindernisse bei Wahlen. Der PCI transformierte sich zunächst zur sozialdemokratischen »Partei der demokratischen Linken« (PDS) und 2007 im Ergebnis einer Fusion mit linken Christdemokraten unter dem späteren EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi in die Demokratische Partei (PD), eine weitgehend profillose und an den Neoliberalismus angepasste Sammlungsbewegung nach explizitem Vorbild der »Democratic Party« in den USA, ein bisschen sozial, ein bisschen grün, vor allem aber durch und durch liberal und antimarxistisch. Heute hat diese Partei nur noch 150.000 Mitglieder und zählt kaum noch fünf Millionen Wähler. Ohne Selbstdemontage und Untergang des PCI hätten Berlusconi, Lega und Alleanza Nazionale nicht ihre Erfolge feiern können. Ohne sie würde Italien heute nicht von der (Post-)Faschistin Giorgia Meloni regiert. Italien zeigt die Zukunft eines brutalkapitalistischen Landes ohne Linke.

1975 sprach der dem italienischen Eurokommunismus eng verbundene britische Historiker und Marxist Eric Hobsbawm davon, dass es »im Leben der italienischen Nation« als Ergebnis der führenden Rolle der Kommunisten im antifaschistischen Widerstand »die Fortdauer einer kulturellen Hegemonie der antifaschistischen, demokratischen und progressiven Tendenzen« gegeben habe, »im Unterschied zu dem, was in Westdeutschland geschah«. In Italien schien es nach 1945 »keine Rechtsintellektuellen« mehr zu geben. Wie konnte dieses Land das Land von Berlusconi und Meloni werden?

Die Biographie der marxistischen Intellektuellen Rossana Rossanda, die sich selbst als »typische bürgerliche Intellektuelle« bezeichnete, »die eine kommunistische Wahl getroffen hat«, gibt Antworten.

Geboren in Pula in Istrien, wo ihrer Mutter ganze »Inselchen« gehören, wächst sie in Mailand auf, wo Rossanda ab 1941 studiert: Philosophie, Literatur, Kunstgeschichte. 1943 findet sie über ihren Philosophieprofessor Antonio Banfi, dessen Sohn Rodolfo später ihr erster Ehemann wird, zum antifaschistischen Widerstand. Als Partisanin »Miranda« ist sie als Kurierin tätig. Aus der Resistenza findet Rossanda zur kommunistischen Arbeiterbewegung. Direkt nach dem Krieg gehört sie zu den Millionen, die in die KP eintreten. Sie wird zur Verräterin an ihrer Klasse.

Wie für ihre Generation typisch, gehören für Rossanda Kunst und Kommunismus, die Liebe zur Literatur und der Kampf der Klassen zusammen. Sie ist Liebhaberin von Literatur und Kino und schreibt in ihrem Leben über eine breites Themenspektrum. Über politische Ökonomie und Imperialismus äußert sie sich genauso elegant wie über Virginia Woolf und den Kunsthistoriker Aby Warburg. Hawthornes »The Scarlet Letter«, Sophokles’ Antigone, Kleists »Marquise von O.« und »Die Betrogene« von Thomas Mann übersetzt sie neu. Dieses bildungsbürgerliche Wissen bringt Rossanda in die proletarische Bewegung ein. In Mailand leitet sie zunächst das »Kulturhaus« des PCI, wird Abgeordnete im Stadtrat, ZK-Mitglied und ab 1963 Parlamentsabgeordnete.

Rossandas Antrieb ist die Menschheitsbefreiung. Sie träumt von der Weltrevolution. Als sie 1962 von der Partei und eines überparteilichen »demokratischen Komitees« den Auftrag erhält, in einer Geheimmission das Spanien Francos zu bereisen, um die Perspektiven der dortigen KP und einer »demokratischen Revolution« zu sondieren, fährt sie hin, forscht »nach Zeichen von Glut« und fragt sich: »Kehrt womöglich die Revolution im Westen auf die Tagesordnung zurück?«

Dass sie als Frau eine führende Rolle einnimmt, erfordert keine Reflexion. Über ihren Werdegang sagt sie: »Wir waren selbstsicher, weil wir wussten – nachdem wir beobachtet hatten, wie unsere Mütter und Tanten lebten –, was wir nicht wollten. Ein Höchstmaß an Bildung und aktiver Teilnahme würde es uns ersparen.« Erst in den späten 1970er Jahren wird sie auch stärker über Weiblichkeit nachdenken.

Denken für die Revolution

Rossandas Denken ist lebendig marxistisch: Orthodoxie legt einerseits die Grundlage für Fokus, Beharrlichkeit und Systematik im Denken. Damit bleibt es ungetrübt von Beliebigkeit, Denkfaulheit und Geistesmoden. Das Denken in und für die Partei ist für Rossanda Teil eines kollektiven Sinnzusammenhangs. Ihr Mangel an Orthodoxie legt andererseits das Fundament für grenzenlose intellektuelle Wissbegierde und Kreativität, die sich im Wissen um die Unabgeschlossenheit des marxschen Werkes auf das gesamte theoretische Erbe der Arbeiterbewegung stützt, inklusive der Unliebsamen.

Bisweilen wird Rossana Rossanda mit Rosa Luxemburg verglichen. Tatsächlich sieht sie sich im Geist der polnischen Revolutionärin, zu einem Zeitpunkt als deren Denken im Marxismus-Leninismus noch unter (»Spontaneismus«-)Verdacht steht. Ihre Denkbewegung über Klasse, Partei und proletarische Revolution beschreibt Rossanda einmal als: »Von Marx ausgegangen, kehren wir allmählich wieder zurück zu Marx.«

Der Zusammenhang ihrer Gedanken lässt sich als die Suche nach der (Welt-)Revolution identifizieren. Ihr dialektisches Denken in Kräfteverhältnissen bemaß letztlich alles an dieser Frage. Und obwohl im Geiste von Gramsci, dem Theoretiker des Scheiterns der Revolution im Westen, groß geworden, spricht sie von Revolution statt Transformation und argumentiert scharf gegen »die Wiederentdeckung des verschmähten ›Überbaus‹« sowie gegen die von manchen postgramscianischen Strömungen ausgegebene »Parole von der Autonomie der Politik«.

Rossanda ist auch »Optimistin des Willens«. Entgegen dem »rien ne va plus«-Denken des zeitgenössisch populären Strukturalismus von Adorno bis Althusser beschäftigt sie die »Dialektik von Bruch und Kontinuität«. Sie erkennt Möglichkeitsfenster für revolutionäres Handeln auf dem Weg zum Sozialismus. Aber im Gegensatz zu späteren Postoperaisten, die erst das Proletariat als Subjekt der Veränderung aufgaben und dann materialistisch unbegründete Momente des Bruchs herbeiphantasierten, ist sie keine idealistische Voluntaristin. Daran hindert sie ihr marxistisches Denken in materiellen Kräfteverhältnissen und Konstellationen.

Aber wie geht Revolution? Die Revolution sei »das unauflösliche Ergebnis der materiellen Reifung des Klassenkampfes, seiner Selbstgestaltung in politischen Ausdrucksformen und des subjektiv sich bildenden Bewusstseins, wobei keines der drei Momente von den anderen zu trennen« sei, schreibt sie 1969.

Klassenbewusstsein entstehe »im Verlauf des Kampfes«. Die Arbeiterklasse bleibe dabei »das permanente geschichtliche Subjekt«, weil der Kapitalismus die Arbeiterklasse in »Gestalt und Dimension« und »auch Entfremdung« erzeuge; was die Klasse dazu bringe, »den Kapitalismus zu negieren, ist ihre wirkliche Stellung. Der Klassenkampf hat seine materiellen Wurzeln im Systemmechanismus selbst.«

In ihrer Revolutionsstrategie für den Westen schließt Rossanda an Gramscis Auffassung an, dass die Revolution in den entwickelten kapitalistischen Nationen, anders als in den abhängigen Peripherien, als »Stellungskrieg« und Kampf eines »historischen Blocks« nichtantagonistischer Klassen um Hegemonie und nicht als »Bewegungskrieg« nach Vorbild des »Sturms auf das Winterpalais« gelingt. Daraus ergebe sich auch eine bessere Ausgangsbedingung für den Aufbau des Sozialismus.

Der »Reifezustand einer gesellschaftlichen Revolution« kennzeichne sich dadurch, dass sie »über eine bloß politische hinausgeht« und dadurch »radikaler als eine politische sein wird; die nicht jakobinisch und darum auch nicht autoritär sein wird«. Als Leitfrage der Revolution stellt Rossanda die Frage: »Welcher Typus von Staat und Institution ist in der Lage, der Arbeiterklasse und dem Volk – einer komplexen Formation – die Erhaltung der revolutionären Allianz zu sichern und zugleich die von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung übernommenen Einrichtungen zu ändern, also eine andere Rationalität der Produktion zu begründen?«

Die Partei ist kein Selbstzweck. Sie definiert sich über den Nutzen, den sie für die revolutionäre Befreiung der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst hat. Rossanda beschäftigt die Bewegung der Revolution zu den schwächsten Gliedern des imperialistischen Weltsystems, wo sie nicht vom Industrieproletariat, sondern vor allem von Kleinbauern und Landarbeitern getragen wurde. Umgekehrt interessiert sie die Stabilität des Kapitalismus in den Zentren.

Für die Peripherie, wo nach Lenin die »imperialistische Kette« als erste bricht, gelte: »Der Zusammenstoß muss (…) regelrecht vorbereitet werden: Je ›unreifer‹ die Gesellschaft ist, desto mehr kommt der Avantgarde die Aufgabe zu, den Abstand zwischen objektiven Bedingungen einer unerträglichen Ausbeutung und dem offenen Ausbruch des Konflikts gleichsam zu verkürzen, indem sie die Ausgebeuteten und Unterdrückten (…) aus ihrer Ignoranz oder Resignation herausreißt – sie (…) zu Revolutionären macht.« Da aber die Erfolgsaussichten von Revolution in abhängigen Formationen von der Revolution in den Zentren abhängen, geht es um sie. In den Zentren herrsche jedoch eine ganz andere Stabilität vor, daher ergebe sich hier eine andere Parteiform: die der klassenbasierten Massenpartei.

Il Manifesto

Wenige Wochen nach diesen Überlegungen wird Rossanda 1969 mit anderen Parteilinken aus dem PCI ausgeschlossen. Ausschlaggebend ist die Gründung einer eigenen Zeitung: Il Manifesto. Ein eigenes Organ zu gründen war oft Ausschlussgrund: Von E. P. Thompsons The Reasoner, der 1956 nach dem XX. Parteitag der KPdSU und dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn zum Auszug der »First New Left« aus der britischen KP führte, bis zur Düsseldorfer Debatte, die 1984 eine Kritik an der volksfrontartigen Orientierung der DKP auf die Friedensbewegung formulierte.

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Rossana Rossanda auf dem Parteitag des PCI in Bologna im Jahr 1968

Im Gegensatz dazu aber steht Il Manifesto nur zum Teil im Kontext parteiinterner Kritik an der Rechtfertigung der Außenpolitik der UdSSR. Denn in Italien ist die relative Distanzierung vom Realsozialismus mit dem zentristischen und dem rechten PCI-Flügel ohnehin vereinbar. Ihr »italienischer Weg« führe aber, so die Kritik der Parteilinken, gar nicht mehr zum Sozialismus. Er stehe für die Aufgabe der Revolution zugunsten von reformistischen Illusionen. Für die Ausschlüsse entscheidender war also diese Kritik und nicht die Reaktion auf die Niederschlagung des »Prager Frühlings«.

Die Gründung von Il Manifesto ist keine Übersprungshandlung, sondern Ergebnis eines langen Entfremdungsprozesses. Rossanda datiert den Beginn auf das Jahr 1962 und ihrer Reise ins franquistische Spanien. Die Reise habe »Zweifel zum Vorschein« gebracht, »die später den Anstoß« gegeben hätten. Sie habe damals gespürt, »dass die Dinge, hielt man sie gegen das Licht der Erfahrungstatsachen, andere Muster und Proportionen offenbarten«, als sie von den kommunistischen Parteien vorgegeben wurden.

Die Orientierung für Spanien war die »demokratische Revolution«, die getragen von einer Volksfront auf den Trümmern der überlebten Diktatur in den Sozialismus führen sollte. Der Kampf gegen Franco werde die Bewegung ebenso stärken wie die italienische Volksfrontstrategie des PCI nach 1944. Die Hoffnung war, dass die Spanier nach dem Ende ihres »Faschismus« mehr Glück haben würden als die Kommunisten in Italien oder Griechenland.

Ihr sei damals, schreibt Rossanda, »zum ersten Mal eine Rechnung nicht« aufgegangen. »Wohl hatten wir den Schlag von 1956 gespürt; wohl peinigte uns die offene Wunde der ›realen Sozialismen‹ (…) Aber im eigenen Hause (…) hielten wir uns für kundig.« In Spanien entwickelte sie eine Kritik der Volksfrontstrategie, weil es keine »demokratische Revolution« gebe, die »bis dicht an die Mauer führen« würde, »die uns vom Sozialismus trennte«.

Die Entfremdung intensiviert sich in den nächsten vier Jahren. 1964 stirbt Togliatti. Die Frage nach seinem Erbe beschäftigt zwei Jahre später den 11. Parteitag. Schon hier kommt es zum Bruch. Auf dem Parteitag geht es um den »Verrat« an der Revolution und um die Volksfrontstrategie, die, als Vorbotin des »historischen Kompromisses« mit der Christdemokratie, d. h. der Partei der Bourgeoisie, auf Anpassung hinauslaufe. Der Parteitag endet mit einer Niederlage. »De facto hat man mich zwar erst drei Jahre später ausgeschlossen, aber die Trennung fand damals statt.«

Das Spiegelbild der Sozialdemokratisierung im Westen ist, so die parteilinke Wahrnehmung, der Verrat an der Revolution im Osten. Die Außenpolitik der Sowjetunion, defensiv auf Existenzsicherung und von Konfliktvermeidung mit den USA getrieben, verhindere neue Revolutionen. Während die UdSSR die Revolution nun nicht länger zu exportieren trachte und entsprechend skeptisch auf die Abenteuer Che Guevaras im Kongo oder in Bolivien blickte, sei der PCI revolutionär nur noch dem Namen nach. In der Niederschlagung des von der UdSSR und China geduldeten Putsches in Chile 1973 durch US-gestütztes Militär, der im Kontrast zum Sieg der Kubanischen Revolution 1959 steht, wird sich Rossanda bestätigt fühlen.

Rückblickend schreibt sie 1977: Die »Identifikation von ›realem Sozialismus‹ mit antiimperialistischer, sozialistischer, antikapitalistischer Bewegung im Westen (…) löste sich in den 1960er Jahren auf, aus mehreren Gründen: aufgrund der immer deutlicher werdenden Großmachtrolle der UdSSR; der zwischen (…) der UdSSR und China eingetretenen Spaltung; in Gefolge der wechselhaften Außenpolitik Chinas, das zwischen Selbstisolierung und Fürsprache für die isolierten Länder der ›Dritten Welt‹ dauernd schwankte; (…) durch (die) verhängnisvolle (…) Invasion in die Tschechoslowakei.« Seitdem sei die Revolutionshilfe durch UdSSR und China »zunehmend (…) mit ihren Interessen auf dem Schachbrett der Welt vermengt«. Mit der Unterstützung Vietnams habe »sich alles verbraucht (…). Die vietnamesischen Genossen haben zwar gesiegt, weil es die UdSSR und China gibt, aber auch (…) obwohl es sie gibt.« Insgesamt sei der Realsozialismus »heute weder Modell noch Garantie für zukünftige und andersartige Revolutionen«.

Rossandas Denken wird nach der Chile-Erfahrung um die Frage kreisen, wie eine Revolution in Italien diesem Schicksal entgehen kann. Daraus erfolgt auch die Frage, »ob eine Revolution überhaupt möglich ist, ohne von (…) UdSSR und China unterstützt oder garantiert zu werden«. Zudem könne sich »keine Revolution (…) dem Zwang entziehen, sich der Lösung der heutigen Krise der UdSSR und des ›sozialistischen‹ Lagers aus ihrem Innern heraus wie auch von außen als ihr eigenes, schwerwiegendes und unaufschiebbares Problem voll anzunehmen«.

In diesem Denken in nationalen wie internationalen Kräfteverhältnissen wird Rossanda 1977 auch eine bedeutende internationale Konferenz über die »nachrevolutionären Gesellschaften« im Osten organisieren. Es ist eine Art zu denken, die Lichtjahre vom heute üblichen linken Moralismus entfernt ist, der Ereignisse wie die Syriza-Wahl in Griechenland oder die Bolivarische Revolution erst feiert und als Projektionsfläche nutzt und sie nach ihrer Niederlage verteufelt, der sich in die Rolle der nützlichen Idioten des westlichen Imperialismus und einer verheerenden neuen Blockkonfrontation begibt, in der er sich keine Position zu China erarbeitet. Rossanda selbst kennt diese apolitische Haltung. 1981 schreibt sie: »Alte und neue Linke klammern wir uns an die jeweils jüngste Revolution, die sich uns darbietet (…). Parasitär nehmen wir an ihren Umwälzungen und Kämpfen teil, außer wenn sie verlieren; dann ziehen wir uns vergrämt und mürrisch zurück. (…) Die Fehler der anderen kennen wir bis ins Detail, wir lieben die Enttäuschungen und streichen sie penibel heraus, um unsere eigenen kompromisslerischen Wendungen zu rechtfertigen.«

Hoffnung 68

Rossanda leidet unter der Stillstellung der Revolution in Ost und West. Im internationalen »1968« erblickt sie, inklusive »Prager Frühling«, das Potential für eine im revolutionären Geist wiederbelebte Arbeiterbewegung. Sie spricht davon, wie »1968 meine Melancholie hinwegspülte«.

Die »Ingraiani«, benannt nach dem »Führer des linken Flügels«, Pietro Ingrao, sehen die Welt in Bewegung. Im Alfa Romeo fährt Rossanda nach Paris, um die Maikämpfe zu studieren. 1968 erscheint ihr Buch »Das Jahr der Studenten«. Sie plädiert für das Bündnis von Studentenrevolte und Arbeiterbewegung. Da viele Studenten das Scheitern der ersehnten Revolution auf ihre mangelnde Verbindung mit der Arbeiterklasse zurückführen, ergeben sich Verbindungen.

An 1968 interessiert die 44jährige der Geist der Revolte. Sie will die traditionelle Arbeiterbewegung damit infizieren. Vier Jahrzehnte später reflektiert sie: »Die Generation der 68er hatte den Elan, mit Althergebrachtem zu brechen. Sie verfügte aber über keine eigene politische Kultur. Der PCI war dagegen Trägerin einer langen politischen Tradition, allerdings hatte sie jeden Willen zur gesellschaftlichen Veränderung verloren. Ich denke, dass zwischen dieser politischen Kultur der Arbeiterbewegung mit ihrer Erfahrung schrecklicher historischer Tragödien einerseits und den Bedürfnissen der Jungen andererseits ein Dialog hätte stattfinden können, sollen. Es kam nicht dazu.«

Il Manifesto sollte das Fundament einer neuen revolutionären Kraft sein. Am 9. September 1970 erscheint dort eine Erklärung. Die »kommunistische Perspektive«, heißt es darin, sei die »einzige Alternative zu den katastrophischen Tendenzen der heutigen Gesellschaft«. Der »parlamentarische Weg« zum Sozialismus aber sei eine »Illusion«. Der »sozialdemokratische Reformismus« habe sich zur »Stütze des Kapitalismus und seines Staates« gemacht. Der »subalterne Eintritt des PCI in den Regierungsbereich« erscheint als eine (Kooptations-)Strategie der Bourgeoisie, die die Krise aber »nicht lösen, sondern verschärfen« werde. Es gehe um die »Notwendigkeit« der »Entwicklung der Theorie der Revolution im Westen« durch einen neuen »Stimulus zum Aufbau einer wirklich revolutionären Kraft«.

Rossanda ist indes keine Sektiererin. Sie weiß um die Bedeutung der klassenbasierten Massenpartei für die Revolution im Westen. Sie schreibt rückblickend: »Ich kenne das Schweigen und das Gewicht der Worte der Kommunisten von einst. Ich weiß auch, dass es unnütz ist, sich in Details über die Partei zu ereifern – das ist das Selbststabilisierungsritual von Splittergruppen, und das waren wir damals noch nicht (…) Tatsache ist, dass man bestimmte Reisen nur in großen Schiffen unternehmen kann«.

Il Manifesto entfacht zunächst eine erhebliche Dynamik. Lokale Gruppen entstehen in fast allen größeren Städten Italiens. »Es ist keine Spaltung«, schreibt Rossanda, »es ist eine regelrechte Blutung, die nicht zur Ruhe kommen will«. Die Zeitung, die ab dem 28. April 1971 täglich erscheint, hat bald 60.000 Abonnenten.

Das wesentliche Parteiprojekt ist die »Partei der proletarischen Einheit« (PSIUP). Sie zieht auch andere Kräfte an, darunter den marxistischen Theoretiker Lelio Basso, der, spektakulär, als gerade neu gewählter Generalsekretär der Sozialistischen Partei (PSI) von diesem Amt zurücktritt und sich der PSIUP anschließt. Alle Parteigründungsversuche scheitern jedoch. Die PSIUP schmiert in Wahlen ab. Auf Anregung von Berlinguer wird sie sich 1984 wieder dem PCI anschließen, aber ohne Rossanda.

Besiegt, aber richtig

Im aufkommenden Neoliberalismus sieht Rossanda die wesentliche Ursache der Niederlage, die der Arbeiterbewegung im Westen und den antiimperialistischen Bewegungen in den Entwicklungsländern das Genick bricht und auch den Druck auf den Realsozialismus erhöht. In dessen Niederlage erblickt sie eine Katastrophe. 1994 beschreibt sie die »Sogwirkung«, die »mit den Regimen des Ostens die Idee einer möglich anderen Gesellschaft überhaupt zu Fall brachte.« Aber: »Die Krise des ›revolutionären‹ Raums hatte sich seit langem angebahnt.«

Die Neoliberalisierung der Sozialdemokratien, gegen die sie anschreibt und zu der auch die Degeneration des PCI zur PD gehört, ist für sie Ausdruck der Ausradierung einer »ganzen Idee der sozialen Transformation«. Den Kuwait-Krieg erkennt sie als Auftakt für einen neuen Imperialismus. In einem gemeinsamen Manifest schreiben Rossanda und Ingrao 1995: Der Golfkrieg sei die »Wende in der geopolitischen Weltlage«, es werden »nicht nur neue schreckliche Technologien ausprobiert, sondern auch nicht weniger alarmierende Denkkategorien salonfähig gemacht: Das Konzept des ›gerechten Krieges‹ (…), der Begriff ›Internationaler Polizeieinsatz‹«, mit dem »eine neue Autorität inthronisiert wurde, die sich das Recht anmaßt, eine neue Weltordnung durchzusetzen«, die »die Herrschaft des Nordens über die südliche Hemisphäre erneuert«.

Das vollständige Verschwinden der sozialistischen Linken macht Rossanda fassungslos. 2018 beklagt sie: »Alles, alles ging verloren. Die Stimme der Erniedrigten und Beleidigten ist nirgends mehr zu hören.« 2005 erscheint die Autobiografie »Die Tochter des 20. Jahrhunderts« mit den Erinnerungen bis 1969. Sie bezeichnet sich selbst als »besiegte Kommunistin«. Der Kommunismus sei »so kläglich gescheitert, dass man sich unbedingt damit auseinandersetzen« müsse. Denn: Er »mag geirrt haben, aber falsch war er nicht«.

2020 stirbt Rossana Rossanda hochbetagt. Ein Jahr zuvor war sie noch einmal bei der kleinen Partei La Sinistra aufgetreten. Nach ihrem Tod befindert der Deutschlandfunk: Mit ihren »Idealen, ihrem Stil zu leben und zu schreiben«, sei es »um linke Intellektuelle« wie sie »sehr einsam geworden. Ob ihr Leben aber mit einer Niederlage geendet ist«, werde erst »die Geschichte zeigen«.

Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt am 26.3.2024 über den Liedermacher Reinhold Andert.

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  • Leserbrief von Doris Prato (24. April 2024 um 14:08 Uhr)
    Da fehlen wieder einmal ein paar entscheidende Aspekte, nämlich, dass Rossana Rossanda am Untergang der IKP durchaus beteiligt war. In der IKP gab es eine starke Basis mit Luigi Longo an der Spitze, die sich der Klassenzusammenarbeit der Parteiführung, die Enrico Berlinguer mit seinem »Historischen Kompromiss« unter der Ideologie des »Eurokommunismus« verfolgte, widersetzte. 1969, als noch alle Möglichkeiten bestanden, diesen Weg zu verhindern, wurde diese Basis von der Rossana Rossanda und Luigi Pintor gebildeten Fraktion Manifesto (ab 1971 Zeitung, die noch heute besteht) im Stich gelassen. Rund 10.000 Mitglieder der Fraktion verließen die IKP oder wurden wegen Fraktionsbildung ausgeschlossen. Während sich die Namensnennung auf das Kommunistische Manifest bezog, wurden aber die Lehren von Marx und Engels, alles zu unternehmen, die Möglichkeiten zum Erhalt der Einheit auszuschöpfen, missachtet. »Lebendig marxistisch« war das wohl nicht. Denn als gebildete Marxisten kannten sie sicher Marxs Kritik am Gothaer Programm und die Tatsache, dass Marx und Engels eben nicht die Aufgabe gestellt hatten, die in Gotha entstandene Partei aufzugeben und eine neue, von revisionistischen Einflüssen freie revolutionäre Arbeiterpartei zu schaffen, sondern sie darum kämpften, »die richtige politische Linie in der deutschen sozialdemokratischen Partei« durchzusetzen. Trotz der opportunistischen Auswüchse des Gothaer Programms stellten sie in den Vordergrund ihrer Wertung die Bedeutung der Herstellung einer einheitlichen Arbeiterpartei. Durch ihr energisches Auftreten gelang es in dieser Periode, die Opportunisten in der Partei zurückzudrängen und zu erreichen, dass das praktische Auftreten der Partei durch revolutionäre Aktionen bestimmt wurde. Sie kämpfte erfolgreich gegen das Sozialistengesetz und fand den richtigen Weg zu den Massen (Kritik des Gothaer Programms, MEW, Bd. 19, Berlin/DDR 1962, S. 15 bis 32).
    Schockierend war, dass Rossana Rossanda sich 2011 hinter die Haltung der Generalsekretärin der CGIL, Susanna Camusso, stellte, die den neokolonialistischen Überfall der USA und weiterer NATO-Staaten zur Beseitigung der Regierung von Gaddafi in Libyen billigte. Rossanda forderte, jeden »Vorbehalt« fahren zu lassen und »die Rebellen entschieden zu unterstützen« (Manifèsto, 9. März 2011). Das war »ein trauriges Beispiel für den Zerfall linker Werte«, einen Ausdruck für »die kulturelle und politische Verwüstung, die die Linke befallen hatte«, schrieb der führende kommunistische Philosoph Domenico Losurdo (»Wenn die Linke fehlt«, Papyrossa, Köln 2017, S. 62 ff.)
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (24. April 2024 um 15:05 Uhr)
      Danke für diese Informationen. Ich hatte schon so eine Vorahnung bei den ersten beiden Absätzen des Artikels. Erschwerend kommt hinzu, dass mich bei Autoren, die von der Luxemburg Stiftung gefördert wurden oder werden, noch kein einziger Artikel überzeugt hat. Ob man allerdings Domenico Losurdo als »führenden kommunistischen Philosophen« bezeichnen sollte, da habe ich meine Zweifel. Kein geringerer als Kurt Gossweiler hat die vielen Irrtümer des Herrn Losurdo in »Genosse Domenico Losurdos ›Flucht aus der Geschichte‹ (2001)« beschrieben. Dazu wäre zu sagen, dass Gossweiler ein äußerst höflicher Mensch war und Losurdo meist nur »Irrtum« unterstellte.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (23. April 2024 um 12:19 Uhr)
    Danke an Ingar Solty für diese »Kurzbiographie« von Rossana Rossanda und ihres Engagements. Was mich daher umso mehr ärgert, sind die defätistischen Titeln wie »Die besiegte Kommunistin« und »Besiegt, aber richtig«. Also, war eh alles umsonst. Diejenigen, die noch sozialistische Ideen hochhalten bzw. vertreten, können gleich abtreten. Die jW sollte sich auch auflösen, denn eine andere Welt ist nicht möglich.

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