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Aus: Ausgabe vom 30.04.2024, Seite 5 / Inland
Stuttgart 21

Endstation Jenseits

Offener Brief an Deutsche Bahn verlangt Aufklärung zu behauptetem »›S 21‹-Universal-Brandschutzkonzept«. Kritiker warnen vor Krematorien
Von Ralf Wurzbacher
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»S-21-Mahnwache« am Hauptbahnhof in Stuttgart

Preisfrage: Wann stehen die Chancen, sich aus einem brennenden ICE ins Sichere zu retten, besser? Wenn Sie der einzige oder einer von Tausenden Fahrgästen sind? Eher kein Fall für den Telefonjoker, sollte man meinen. Oder doch? Klingelt man nämlich bei der Deutschen Bahn (DB) durch, erhält man Erstaunliches zur Antwort: »Das der bestandskräftigen Planfeststellung zugrundeliegende Brandschutzkonzept des künftigen Stuttgarter Hauptbahnhofs ist von der Art der eingesetzten Züge unabhängig.« Verlauten ließ dies ein Konzernsprecher am 19. April gegenüber der Stuttgarter Zeitung, was so viel heißt wie: Ganz egal, wie viele Waggons es gibt und wie viele Passagiere darin sitzen – aufs Gelingen der Entfluchtung hat das keinen Einfluss.

Bei den Kritikern von »Stuttgart 21« sorgt das für Kopfschütteln. Sie beklagen seit vielen Jahren, dass die Brandschutzbestimmungen sowohl für den künftigen Tiefbahnhof als auch die diversen »S 21«-Tunnel den gängigen Sicherheitsstandards nicht genügen. Den Verantwortlichen sowie den Aufsichtsbehörden werfen sie sogar die systematische Missachtung der Vorgaben vor, um die Fertigstellung und den Start des Projekts nicht zu gefährden. Denn hielten sie sich an die Regeln, wäre eine Inbetriebnahme »ausgeschlossen«, wie Vertreter des »Aktionsbündnisses gegen S 21« jüngst bekräftigten. Auf genau diese Ansage war besagte DB-Einlassung gemünzt, die nun erneut ein Nachspiel hat. In einem offenen Brief an die DB Projekt Stuttgart–Ulm GmbH (PSU) vom 24. April fordern die Projektgegner deren Chef Olaf Drescher zur Stellungnahme zu einer Reihe an Fragen auf. Allen voran solle er bitte einen Experten benennen, der das behauptete »Universalbrandschutzkonzept« für »S 21« bestätige, und »lassen Sie ihn oder sie für diese Einschätzung eine nachvollziehbare Begründung abgeben«.

Christoph Engelhardt, Physiker und Gründer des Faktencheckportals Wiki­real.org, glaubt nicht, »dass sich so ein Fachmann auftreiben lässt«. Überall im Brandschutz sei die Personenzahl die »Grundprämisse«, und bei den »S 21«-Tunneln habe sich die Evakuierungszeit mit der zuletzt auf bis zu 3.681 Insassen verdoppelten Personenkapazität mehr als verdoppelt. »Die Tunnel werden im Katastrophenfall absehbar zu einer Todesfalle und die Bahn kann seit über fünf Jahren keinen einzigen unserer Kritikpunkte entkräften«, erklärte er am Montag gegenüber jW. Tatsächlich sind die Macher des Projekts bis heute den gemäß »Tunnelrichtlinie« des Eisenbahnbundesamts (EBA) erforderlichen Nachweis schuldig geblieben, dass in der Not die »Selbst- und Fremdrettung gewährleistet« ist. Eine ominöse Simulation, von der es einmal hieß, sie leiste dies, während sie in Wahrheit lediglich ein »Kaltereignis« durchspielte, hat die PSU jahrelang mit fadenscheinigen Begründungen unter Verschluss gehalten. Zuletzt endete der Rechtsstreit mit dem Eingeständnis, das Videomaterial sei vor acht Jahren gelöscht worden.

Gefragt nach dem offenen Brief bat am Montag ein DB-Sprecher um »Verständnis, dass wir uns zur Korrespondenz mit Dritten nicht äußern«. Gleichwohl verwahre man sich »mit Nachdruck« gegen die von »S 21«-Gegnern »seit Jahren betriebene Panikmache«. Warum aber wurden die Tunnel mit Fluchtwegen einer Breite von nur 120 Zentimetern dimensioniert, die sich durch Einbauten stellenweise auf 90 Zentimeter verengen? Grund ist das Mineral Anhydrit im Gestein des Stuttgarter Untergrunds, das bei Berührung mit Wasser aufquillt. Also wurden die Röhren dicker als üblich gebaut, wodurch innen weniger Platz bleibt. »Das Ganze ist eine Fehlkonstruktion aus Kostengründen«, sagte gestern Wikireal.org-Sprecher Joris Schoeller dieser Zeitung. Anknüpfend an den Wortlaut von Hans-Joachim Keim, der als einstiger Gutachter bei der Tunnelkatastrophe im österreichischen Kaprun mit 155 Toten auch das »S 21«-Brandschutzkonzept analysiert hat, befand Schoeller: »Wenn etwas Schlimmes passiert, werden diese Tunnel zu Krematorien.« Und Dieter Reicherter vom Bündnis »Ingenieure 22« ergänzte: »Unter vorgehaltener Hand sagt man uns, dass Feuerwehr und Rettungskräfte zu ihrem eigenen Schutz im Brandfall erst gar nicht in den Tunnel einfahren würden.« Sicher ist sicher!

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