22.03.2024 / Thema / Seite 12

Volksfront mit Putin

Nach der Präsidentenwahl in Russland fährt Wladimir Putin eine zweigleisige Strategie. Er setzt auf einen militärischen Erfolg in der Ukraine sowie eine Modernisierung der Wirtschaft und des Machtapparates

Harald Projanski

Eines haben auch die schärfsten Gegner des russischen Präsidenten ihm bisher nicht vorgeworfen: dass er einen aussichtsreichen Konkurrenten bei der Präsidentenwahl am 17. März um den Sieg gebracht hätte. Denn niemand hatte angenommen, dass ein anderer als Putin nach der Wahl in den Kreml einziehen würde. Am Ende einer Wahlkampagne, die trotz dreier weiterer Bewerber zu keinem Zeitpunkt von Konkurrenz geprägt war, stand ein Ergebnis, das kaum höher war als erwartet: 87,28 Prozent für Putin. Der Kandidat der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), Nikolai Charitonow, erhielt 4,31 Prozent, Wladislaw Dawankow, der Kandidat der liberalen Partei »Neue Leute« 3,85 Prozent und der Rechtspopulist Leonid Sluzki 3,20 Prozent.

Für westliche Medien, etwa für den Spiegel, stand schon vor der Auszählung der Stimmen fest, es handele sich nur um eine »Pseudowahl in Putins Diktatur«. In dieser Sicht wird ausgeblendet, dass Putin heute zwischen Kaliningrad und Wladiwostok um ein Vielfaches populärer ist als alle von den Medien und Machtzentren des Westens favorisierten Oppositionsfiguren. Außen vor bleibt bei dieser Betrachtung auch das zweite große russischsprachige Land, die Ukraine. Dort präsentiert Präsident Wolodimir Selenskij sein Gemeinwesen als Frontstaat der westlichen Demokratie. Doch sein Regime hat elf Parteien verboten. Und im Gegensatz zu Putin stellt sich Selenskij keiner Wahl. Das Ergebnis des glücklosen Kiewer Feldherren und Kostgängers des Westens fiele wohl in jedem Falle deutlich bescheidener aus als das seines russischen Amtskollegen. In der Ukraine sind nur noch rechte Parteien legal und nicht eine einzige linke. In Russland stellen die Kommunisten immer noch die stärkste Oppositionskraft.

In diesem Jahr steht Putin »seit einem Vierteljahrhundert am Steuerrad«, wie die von der russischen Auslandsaufklärung SWR herausgegebene Zeitschrift Raswedtschik in ihrer jüngsten Ausgabe auf ihrem Titelblatt verkündet. Darin klingt der traditionelle russische Hang zum Personenkult ebenso an wie der Stolz, dass die lange Amtszeit des früheren Auslandsaufklärers Putin als mit Abstand längste Operation des Dienstes in die russische Geschichte eingehen kann.

In doppelter Funktion

Dienst am Vaterland, wie Putin ihn versteht, war für ihn immer auch die Fortsetzung der Geheimdienstarbeit in anderer Funktion. So war es schon im August 1999, als der damalige Präsident Boris Jelzin ihn zum Premierminister ernannte. Putin übernahm ein zerrüttetes Land, das nicht einmal mehr sein Territorium vollständig kontrollierte. In der separatistischen »Tschetschenischen Republik Itschkerija«, einem Gebiet von der Größe Thüringens, herrschte ein Konglomerat aus ethnischen Nationalisten, organisierten Kriminellen und militanten Islamisten. Bewaffnete Trupps der Dschihadisten überfielen im August 1999 von Tschetschenien aus die russische Nachbarrepublik Dagestan. In dieser Situation entschloss sich Putin dazu, die Gangster-»Republik« in Tschetschenien militärisch zu zerschlagen. Das war der zweite Tschetschenienkrieg und der Beginn seines politischen Aufstiegs.

Als Putin, nach Jelzins Rücktritt zur Jahreswende 1999/2000 zunächst amtierender Staatschef, zur Präsidentenwahl im März 2000 antrat, tat er dies in einer Doppelfunktion: als Präsidentschaftskandidat und als Oberkommandierender. Er erhielt damals 52,94 Prozent der Stimmen, sein stärkster Gegenkandidat, der Kommunist Gennadi Sjuganow, bekam 29,21 Prozent. In dieser Doppelfunktion agierte Putin auch 24 Jahre später bei der jetzigen Wahl. Denn was heute in Moskau offiziell »militärische Spezialoperation« genannt wird, das militärische Vorgehen in der Ukraine, war zu Beginn ähnlich wie der Tschetschenienkrieg eine militärisch abgesicherte Geheimdienstoperation. In beiden Fällen ging es vor allem um den Austausch der politischen Führung des Gegners. Wie russische Experten einräumen, war das Ziel der im Februar 2022 begonnenen Operation in der Ukraine zunächst der Sturz der Regierung in Kiew, ähnlich wie bei der Intervention der Warschauer Vertragsstaaten 1968 in Prag. Es spricht vieles dafür, dass Putin damals hoffte, die Ukrainer würden ähnlich wie die Tschechoslowaken auf bewaffneten Widerstand verzichten. Doch die Geschichte dieser von Moskau nicht als langfristiger Krieg geplanten »Spezialoperation« brachte unerwartete Ergebnisse hervor.

Ein Plebiszit

Es mag paradox anmuten, aber vieles spricht dafür, dass die jetzige Wahl in ihrem Ergebnis weniger manipuliert wurde als etwa die Präsidentschaftswahl im Juni 1996 unter Jelzin. Damals war der Kommunist Sjuganow weit populärer als Jelzin, der für Verarmung des Landes und außenpolitische Unterwerfung unter die Interessen der USA stand. Für Putin sah die Lage schon Monate vor den jetzigen Wahlen günstiger aus. Kurz vor der Wahl erfuhren Soziologen des aus westlichen Quellen subventionierten Moskauer Forschungsinstitutes Lewada durch Umfragen, dass 82 Prozent der Russen Putin politisch zustimmen. Das kam dem jetzigen Wahlergebnis schon nahe.

Der begrenzte militärische Erfolg Russlands, das einen Teil des traditionell russisch geprägten Gebietes im Osten der bisherigen Ukraine einnahm, hat sich unterdessen in eine politische Ressource der russischen Führung verwandelt. Dialektik des Krieges: Je mehr die Streitkräfte Kiews mit US-amerikanischen und deutschen Panzern versuchten, Städte anzugreifen, deren Bevölkerung sich überwiegend als Russen versteht und die inzwischen die russische Staatsbürgerschaft besitzt, desto mehr erschien der militärische Konflikt Millionen von Bürgern der Russischen Föderation als ein Verteidigungskrieg zum Schutz Russlands. Diese Überzeugung verfestigt sich mit dem Wiederaufbau von Städten wie Mariupol, die nach russischer Rechtsauffassung nun zu Russland gehören. Auffällig ist, dass die Wahlbeteiligung in den Grenzgebieten Russlands, die Opfer von ukrainischen Überfällen wurden – wie Belgorod –, höher lag als im Landesdurchschnitt. Hinzu kommt die Tatsache, dass das Regime in Kiew auch mit einem Sammelsurium von Waffen aus NATO-Staaten keine Chance hat, sich die abhanden gekommenen Gebiete wieder zu unterwerfen.

In dieser Situation war die Präsidentenwahl ein Plebiszit über Putin, seinen Kurs und den von ihm geleiteten Kampf gegen die NATO-Länder, welche die Ukraine als militärischen Rammbock gegen Russland missbrauchen. Putin wurde damit übergreifend für verschiedene politische Lager in Russland zum Frontmann des Widerstandes gegen den US-Imperialismus und seine Handlanger. Zugute kommt ihm auch, was zwei Autoren der außenpolitischen US-Zeitschrift Foreign Affairs, Michael Kimmage und Marija Lipman, in einer jüngsten Analyse konstatieren: Russland habe auf dem ukrainischen Schlachtfeld die Oberhand gewonnen. Die russische Wirtschaft sei »in guter Verfassung«, gestützt auf niedrige Arbeitslosigkeit und steigende Löhne. In den Augen des heimischen Publikums habe Putin dem Stresstest der Sanktionen und des militärischen Drucks aus dem Westen widerstanden. Insofern entspricht das Ergebnis für Putin durchaus einer breiten Volksstimmung. Das schließt systematische Manipulationen in einzelnen, paternalistisch geprägten Regionen wie Tschetschenien nicht aus. Dessen Wahlkommission präsentierte ein Ergebnis von verdächtigen 98,99 Prozent für den Staatschef.

Wahlkampf nach Drehbuch

Putin legte Wert darauf, als unabhängiger Kandidat anzutreten. Damit ging er bewusst auf Abstand zu der von seiner Präsidialadministration gelenkten Partei »Einiges Russland«, einem Konglomerat aus Beamten, mit ihnen verfilzten »Bisnesmen« und Konjunkturrittern. Die Partei, die von oberflächlichen westlichen Beobachtern schon mal mit der KPdSU verglichen wurde, hat sich niemals als jene »leitende und lenkende Kraft« erwiesen, welche die sowjetische KP per Definition in Artikel 6 der Verfassung der Sowjetunion sein wollte. »Einiges Russland« war und ist nur ein Anhängsel der Präsidialadministration und damit ein schwaches Bein der russischen Staatsmacht.

Russlands Präsident bewies ein Gefühl für Massenstimmungen, indem er in einer Situation, in der Zehntausende seiner Soldaten an der Front ihr Leben riskieren, keine klassischen Wahlkampfveranstaltungen absolvierte. Einen Tag vor Beginn der Wahl, die vom 15. bis zum 17. März dauerte, wandte er sich in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung. Darin bat er das Wahlvolk nur, seine Stimme abzugeben. Er gab sich dabei bescheiden. Putin warb nicht für sich. Der Staatschef bekannte sich zum »Prinzip des demokratischen Staates«, der »reguläre Wahlen« abhalte. »Das Volk« sei in Russland »die Quelle der Macht«. Er räumte ein, das Land befände sich in einer »nicht einfachen Periode« mit »schwierigen Herausforderungen«. Es gelte, »die Freiheit, Souveränität und Sicherheit Russlands« zu verteidigen. Putin bekannte sich zu »Werten, Traditionen, Geschichte und Kultur« Russlands. Er appellierte an die »patriotischen Gefühle« der Bürger und erinnerte an »die Bewohner des Donbass und Neurusslands«, die »für die Einheit mit Russland gestimmt« hätten. Putin meinte damit die Referenden vom 30. September 2022, nach denen diese Gebiete nach russischer Rechtsauffassung der Russischen Föderation beigetreten sind.

Während der gesamten Wahlkampagne zog Putin es vor, im Amt des Staatschefs für sich zu werben. Dabei suchte er die Nähe von Zielgruppen, die ihm wichtig sind: Arbeiter, Soldaten und kinderreiche Familien. In einer sichtbar durchdachten Dramaturgie zeigte sich der bald 72 Jahre alte Putin bei Auftritten immer wieder sowohl geistig als auch körperlich fit und durchweg gut informiert. Mal absolvierte er einen Flug mit einem neuen Langstreckenbomber, mal sprach er jovial mit jungen Rüstungsarbeitern. Dabei präsentierte er sich als Politiker, der sich dem arbeitenden Volk verpflichtet sieht. Bei einem Besuch in der traditionsreichen Panzerfabrik »Uralwagonsawod« in Nischni Tagil am Ural, die einst den T-34 produzierte, fragte er nach der sozialen Infrastruktur in der Stadt. Dabei zeigte er sich über die Veränderungen dort gut im Bilde. Bei vielen seiner Auftritte, vor allem auch beim »Poslanije«, seiner Rede an die Nation am 29. Februar, zog sich die sozialpolitische Orientierung wie ein roter Faden durch seine Beiträge. Doch er beließ es nicht bei sozialen Versprechungen. Vor allem in seinem »Poslanije« legte er einen Schwerpunkt auf eine umfassende wirtschaftliche Modernisierung auf der Basis moderner Technik und auf eine »Erhöhung der Arbeitsproduktivität«. Dabei griff er ein traditionelles Problem auf, dem sich bereits alle sowjetischen Führer seit Lenin gewidmet haben. Doch weder Teilreformen zur Sowjetzeit noch die Umstellung des Landes auf kapitalistisches Wirtschaften haben den Abstand in der Arbeitsproduktivität zwischen Russland und den entwickelten kapitalistischen Ländern wesentlich senken können. Warum das so ist, hat auch Putin bisher nicht öffentlich diskutiert.

Konservativer Antiimperialismus

Putin legt einen zentralen Akzent auf die demographischen Probleme des Landes. In seiner Rede an die Nation griff er dieses Thema auf, das schon bei seiner ersten Rede in diesem Format im Mai 2000 in Mittelpunkt gestanden hatte. Russlands Geburtenrate ist zu gering, um die Ressourcen des Landes effektiv zu nutzen. Rund ein Vierteljahrhundert nach Putins Amtsantritt hat sich die Lage nicht grundlegend gebessert. Auch Putins patriotische Propaganda und sozialpolitische Maßnahmen haben nicht viel daran geändert, dass die materielle Orientierung breiter Bevölkerungsteile den vom Westen ausgehenden kulturellen Impulsen im Lebensstil folgt. Die Zeiten, in denen stolze Mütter bei einem Aufmarsch auf dem Roten Platz Stalin kräftige Säuglinge entgegenreckten, sind vorbei.

Doch auch wenn oppositionell gesinnte Russen Putins Werbeoffensive für mehr Kinder angesichts seiner Kriegführung als zynisch ansehen, ist deren Wirkung nicht zu übersehen. Das von Putin ausgerufene »Jahr der Familie« mit Parolen wie »Wir bewahren Traditionen – wir entwickeln Russland« trifft sich mit dem konservativen Lebensgefühl großer Teile der russischen Bevölkerung. Im Widerstand gegen die mit westlicher Militärhilfe ausgebaute antirussische Bastion Ukraine festigt sich der kulturkonservative Antiimperialismus, der im Staate Putins eine dezidierte Staatsideologie ersetzt. Gerade auch die proklamierte Unterstützung kinderreicher Familien als gesellschaftliche Priorität verschafft Putin eine Massenbasis. Dass Putin in weiten Teilen der Bevölkerung mit diesem politischen Ansatz Resonanz findet, liegt auch daran, dass er gleichzeitig von der Armut von Millionen russischen Bürgern spricht und davon, dass rund 30 Prozent der kinderreichen Familien in prekären Verhältnissen leben. Putin nannte auch absolute Zahlen: Noch immer leben nach seinen Angaben 13 Millionen Russen in Armut.

Opposition ohne Plan

Zugleich zeigte der Wahlkampf, dass in Russland der Spielraum selbst für pflegeleichte und letztlich lenkbare Oppositionelle eng geworden ist. Der Versuch des liberalen Politikers Boris Nadeschdin, zur Präsidentenwahl zu kandidieren, scheiterte an der Zentralen Wahlkommission. Angeblich hatten seine Unterstützer zu viele nicht korrekte Unterschriften eingereicht. Dass der promovierte Mathematiker und Physiker sich verrechnet hatte, als er hoffte, als Präsidentschaftskandidat zu reüssieren, hatte aber womöglich andere Gründe. Mit moderaten Floskeln wie der, man müsse »diese Geschichte mit der Ukraine beenden«, hatte er gehofft, als Zweitstimme im Chor der Kandidaten mitsingen zu dürfen.

Dafür sprach zunächst, dass Nadeschdin seit mehr als zweieinhalb Jahrzehnten eine Vertrauensstellung bei Sergej Kirijenko besitzt, dem jetzigen stellvertretenden Leiter der Präsidentenadministration. Kirijenko steuert als Vorkoster die Vorauswahl der Präsidentschaftskandidaten. Für ihn war Nadeschdin 1998 als Berater tätig, als Kirijenko unter Jelzin das Amt des Premierministers ausübte, bevor er sich vom labilen Liberalen zum moderaten Manipulateur am Hofe Putins wandelte. Nadeschdins Bewerbung wurde für die Staatsführung offensichtlich zur Belastung, weil er sogenannte nichtsystemische Oppositionelle anlockte, darunter Anhänger des im Februar in Haft gestorbenen langjährigen rechtspopulistischen Aktivisten und in den USA geschulten »Hoffnungsträgers« der Kompradorenbourgeoisie Alexej Nawalny (»Gecastet in Yale«, jW vom 29.10.2021). Damit wurde das Experiment Nadeschdin aus Sicht des Machtzentrums zum schwer kalkulierbaren Risiko. Denn die Opfer und Beschwernisse des Krieges ermöglichen es von US-Strukturen subventionierten Propagandisten, bei wankenden Teilen der Intelligenz als vermeintliche »Kriegsgegner« und Pseudopazifisten im trüben zu fischen.

Die KPRF hingegen steht loyal zum außenpolitischen Kurs des russischen Präsidenten, einschließlich der »Militärischen Spezialoperation«. Der KPRF-Vorsitzende Gennadi Sjuganow hat sich am 12. März mit einem Aufruf an die Wähler gewandt: Die Wahlen fänden »erstmals unter den Bedingungen eines Krieges statt, den die NATO gegen uns begonnen hat«. Zugleich kritisierte er, die Staatsmacht in Russland übe »administrativen und informationellen Druck« aus. Dabei versuche die Regierung, »die Notwendigkeit einer Wende nach links zu ignorieren«. Dies aber sei »sehr gefährlich«. Der Präsidentschaftskandidat der KPRF, Nikolai Charitonow, sei jemand, der bereits in den neunziger Jahren als »eine Stimme der Arbeiter und Bauern« aufgetreten sei, die Stimme derer, »welche die antisowjetische Konterrevolution beraubt hat«.

Charitonow forderte gemeinsam mit der KPRF die »Nationalisierung der strategischen Wirtschaftszweige« und eine »langfristige sozialökonomische Planung«. Es gelte, so der Kandidat, die Losung »Der Sozialismus siegt«. Diese Parole bleibt freilich plakativ. Sie ist nicht durch eine klare Strategie der Partei für einen neuen Sozialismus untermauert. Auch Sjuganow weiß, dass die KPRF überaltert und mitgliederschwach geworden ist. Ein erfolgreicher Anlauf zur Schaffung eines sozialistischen Staates in Russland ist von ihr in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. So hat die Partei unter Sjuganow gegenüber Putin eine Art Volksfrontpolitik eingeschlagen: Gegen ukrainische Faschisten, das Kiewer Regime und seine Regisseure und Waffenlieferanten sind die Kommunisten zu einem breiten Bündnis auch mit anderen Patrioten, einschließlich Kräften der nationalen Bourgeoisie bereit.

Sergej Obuchow, ZK-Sekretär der KPRF und Duma-Abgeordneter, der oft mit schärferen Einschätzungen auftritt als der mehr diplomatisch agierende Sjuganow, sagte im Wahlkampf, es sei notwendig »das gesamte System zu ändern«, das »auf den Verrat des Landes und Volkes ausgerichtet« sei durch die »oligarchische russische herrschende Klasse«. Russland brauche einen Durchbruch auf der Basis neuer Technologien und Wissenschaft, nach dem Beispiel der »leninschen-stalinschen Modernisierung«. Nötig sei dafür »Widerstand gegen das Finanzkapital«. Eine »Gegenelite in Gestalt von Teilnehmern der militärischen Spezialoperation« allein sei dazu nicht in der Lage.

Damit spielt Obuchow auf Äußerungen Putins im »Poslanije« vom 29. Februar an. Darin hatte der Präsident angekündigt, »Teilnehmer der speziellen Militäroperation« sollten »auf führende Positionen rücken«. Diese »mutigen Leute« sollten sich der »Erziehung der Jugend« widmen, Städte und Staatsunternehmen führen und ganze Regionen leiten. Diese Kämpfer hätten künftig die Aufgabe, im Staat eine »wirkliche Elite« formieren, im Gegensatz zur Pseudo-»Elite« der neunziger Jahre, die sich »vor allem die Taschen vollgestopft« habe. Die künftige Führungsschicht soll, wie Putin sagte, in speziellen Kursen geschult werden – unter der Devise »Zeit der Helden«.

Ganz neu ist dieser Ansatz nicht. Auch schon nach dem von Putin geführten zweiten Tschetschenienkrieg ab Ende 1999 stiegen Generäle aus Armee und Geheimdienst zu Leitern von Regionen auf. Die Ergebnisse waren nach Einschätzungen von Mitarbeitern der Präsidentenverwaltung gemischt. Vor allem fehlte es Generälen oft an wirtschaftlicher Fachkompetenz. Hinzu kommt, dass auch die Wunschvorstellung, Militärs seien der Korruption gegenüber widerstandsfähiger als andere Bürger, nicht immer der Wirklichkeit entspricht. Der Versuch, mit jungen Soldaten und Offizieren die Elite zu erneuern, ist eine Reaktion Putins auf eine strukturelle Schwäche der russischen Staatsmacht. In einem Vierteljahrhundert gelang es ihm nicht, eine dynamische politische Partei zu schaffen, wie sie die Volksrepublik China in der Kommunistischen Partei besitzt. Auch entstand in Russland keine politisch effektive Jugendorganisation mit einer eigenen Agenda. Denn in Putins Präsidialadministration herrschte stets faktisch die Linie vor, Jugend müsse von Bürokraten geführt werden und nicht von Jugend selbst. Entsprechend waren die Ergebnisse. Mehrere Jugendorganisationen am Tropf der Administration verschwanden nach wenigen Jahren spurlos.

Die »äußerste« Maßnahme

Unterstützung im Volk, auch bei der KPRF und ihren Wählern hingegen hat Putin, was seine Haltung gegenüber dem Einsatz von Atomwaffen betrifft. In westlichen Medien wird Wladimir Putin immer wieder wie ein Wahnsinniger dargestellt, der mit Atomwaffen »droht«, als eine Art Doktor Seltsam, der die Bombe liebt und lustvoll auf das Inferno zusteuert. Doch wer die Äußerungen des russischen Präsidenten zum Nuklearwaffenthema aufmerksam liest, kann feststellen, dass er sich stets im Rahmen der im Juni 2020 verkündeten nuklearen Doktrin der Russischen Föderation bewegt. In diesem Präsidenten-Ukas Nr. 355 wird das Ziel definiert, durch Nuklearwaffen »einen potentiellen Gegner von einer Aggression gegen die Russische Föderation abzuhalten«. Die »Anwendung« von Atomwaffen sei eine »äußerste und erzwungene Maßnahme«. Das »Recht, die Nuklearwaffe anzuwenden«, so der Ukas, behalte sich Russland vor, wenn gegen das Land »Atomwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen angewandt« würden oder wenn durch einen Angriff mit konventionellen Waffen »die Existenz des Staates bedroht« sei.

In einem Gespräch mit dem Staatsfernsehjournalisten Jewgeni Kisseljow hat Putin am 13. März deutlich gemacht, dass die Frage der Anwendung von Nuklearwaffen für ihn zu keinem Zeitpunkt während des militärischen Konfliktes in der Ukraine zur Debatte stand, auch nicht, als russische Truppen im Herbst vergangenen Jahres die nach Moskauer Auffassung russische Stadt Cherson räumten. Denn dadurch sei die Existenz Russlands nie bedroht gewesen. Für Verhandlungen über die Ukraine zeigte sich Putin während seiner Wahlkampagne grundsätzlich bereit. Nur sollten diese nicht nur zu einer »Pause« im Krieg führen, die »der Gegner zu einer Neubewaffnung nutzen« werde.

Harald Projanski schrieb an dieser Stelle zuletzt am 13. Oktober 2023 über das Waldai-Forum in Sotschi: »Anti-Davos im Kaukasus«

https://www.jungewelt.de/artikel/471918.russland-nach-der-wahl-volksfront-mit-putin.html