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Aus: Ausgabe vom 13.05.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Ein Riss in der Welt

Kafka performativ: Eine Veranstaltungsreihe in Athen zum Jubiläumsjahr
Von Sabine Fuchs
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»Allenfalls könnte man von diesem Kafka eine Legende bilden: Er habe sein Leben darüber nachgegrübelt, wie er aussähe, ohne je davon zu erfahren, dass es Spiegel gibt« – Walter Benjamin

»Kafka und kein Ende« – unter diesem Titel organisiert das Goethe-Institut in Athen seit März gemeinsam mit den Abteilungen für deutsche Sprache und für Theaterwissenschaften der Athener Universität eine Veranstaltungsreihe zum 100. Todestag von Franz Kafka. Neben Buchpräsentationen, Ausstellungen und Filmscreenings geht es dabei um die Frage, wie Kafkas Prosatexte durch das Theater repräsentiert werden. So stellte Nikolaos Koskinas, Germanist, Kafka-Experte und Organisator der Reihe anlässlich der Diskussion »Franz Kafka: Der Sonderfall der Gruppe Simeio Miden« die Frage, wie man »einen Mann auf die Bühne bringen kann, der sich eines Morgens in einen riesigen Käfer verwandelt, oder einen Affen, der zum Menschen wird, oder eine seltsame Foltermaschine«.

Es war Walter Benjamin, der als Erster klar gesehen hat, wie antinaturalistisch die Theatralik Kafkas ist. In seinem 1934 zu dessen zehnten Todestag entstandenen Essay schreibt er, dass Kafkas ganzes Werk einen »Kodex von Gesten« darstellt, die keine gesicherte symbolische Entsprechung mehr haben, sondern in immer wieder anderen Versuchsanordnungen nach Bedeutung suchen. Den Menschen in Kafkas Texten entgleite der eigene Körper, werde ihm zum Feind. »Es kann geschehen, dass der Mensch eines Morgens erwacht, und er ist in ein Ungeziefer verwandelt. Die Fremde – seine Fremde – ist seiner Herr geworden.« Mit einer mimetischen, auf psychologisierender Einfühlung beruhenden bürgerlichen Schauspielkunst kann man dem nicht beikommen.

Auch die Arbeit der Theatergruppe Simeio Miden und ihrem Regisseur Savvas Stroumpos ist antinaturalistisch und antipsychologisch. Die Schauspieler entwickeln ihre Rollen nicht logozentrisch nach einem vorgegebenen Konzept des Regisseurs, sondern aus dem eigenen Körper heraus, werden so selbst zu kreativen Mitschöpfern der Interpretation. Es ist kein Zufall, dass Simeio Miden in den letzten 15 Jahren sechsmal Texte von Kafka auf die Bühne gebracht hat – jeweils zweimal »Die Verwandlung« und »In der Strafkolonie«, dazu die Kafka-Fragmente in der musikalischen Bearbeitung von György Kurtág und zuletzt während der Coronapandemie »Bericht an eine Akademie«.

In der Veranstaltung, die auch im Internet anzusehen ist, erklärte Stroumpos anhand von Videoausschnitten und einer Werkdemonstration – drei Mitglieder von Simeio Miden präsentierten ihre Soli aus »Bericht an eine Akademie« – seinen Zugang zu Kafkas Werk. Am Beginn stand 2009 die erste Version der »Strafkolonie«, die im ehemaligen Gestapo-Gefängnis in Athen anlässlich der Eröffnung der dortigen »Historischen Gedenkstätte 1941–1944« Premiere hatte und die vor dem Hintergrund der Jugendrevolte 2008 entstanden war. Seit damals, so Stroumpos, seien Erinnerung, Revolte und Geschichte die Grundlagen der Arbeit von Simeio Miden.

Die Zurichtungen des Menschen im Kapitalismus waren dann der Kontext, in dem die weiteren Arbeiten entstanden. Bei der »Verwandlung« lag der Fokus auf der Familie als labyrinthischer Maschine der Entmenschlichung und Entfremdung. Die zweite Interpretation der »Strafkolonie« entstand im Gegensatz zur ersten, historisch und politisch sehr spezifischen, mit Fokus auf den menschlichen Körper, der – bedrängt durch die repressive und entfremdende Macht der bürgerlichen Gesellschaft – selbst zu seiner eigenen, disziplinierenden Bestrafungsmaschine wird. Die Adaption von »Bericht an eine Akademie« entstand unter Lockdown-Bedingungen, der Fokus lag auf der Erforschung der traumatischen Beziehung zwischen Mensch und Natur in Zeiten von Neoliberalismus und Klimawandel.

Die Zurichtung des Menschen in der spätkapitalistischen Gesellschaft ist immer eine Zurichtung, Disziplinierung, Kastrierung des fragilen, lebendigen menschlichen Körpers. Benjamin schreibt, hinter jeder von Kafkas Gebärden reiße wie bei El Greco der Himmel auf, im Zentrum aber bleibe die Gebärde, nicht ihre Bedeutung. Diese unerklärliche Gebärde, die aus dem Urgrund des Körpers kommt, dieser kleine, inkommensurable Riss in der Welt, durch den wir das Nichts sehen, das unser aller Leben umgibt, kennzeichnet auch die Arbeit von Savvas Stroumpos und Simeio Miden. Es ist dieser Riss, in dem Kunst entsteht.

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