junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 18. / 19. Mai 2024, Nr. 115
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 04.05.2024, Seite 15 / Geschichte
Geschichte der BRD

Brandts Legendenstoff

Ende einer »Spionageaffäre«: Vor 50 Jahren übergab der erste SPD-Bundeskanzler seine Rücktrittserklärung
Von Arnold Schölzel
15.jpg
Blumen zum Abschied. Willy Brandt (l.) und SPD-Fraktionsvorsitzender Herbert Wehner (6.5.1974)

Am 6. Mai 1974 reichte Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) seine Rücktrittserklärung bei Bundespräsident Gustav Heinemann ein. Die Öffentlichkeit erfuhr davon um Mitternacht. Am 8. Mai erläuterte Brandt in einer dreiminütigen Rundfunk- und Fernsehansprache seine Gründe. An die Spitze stellte er, was er auch gegenüber Heinemann erklärt hatte: Er »übernehme die politische Verantwortung für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre Guillaume«. Das war eine Teilwahrheit. Die Verhaftung der DDR-Kundschafter Christel und Günter Guillaume am 24. April 1974 in Bonn war Anlass, nicht Ursache des Sturzes. Alle in Medien und Politik der BRD, denen die ganze Richtung der Brandtschen Außenpolitik Richtung Osten nicht passte, hatten seit Jahren eine »Treibjagd«, eine »riesige Kampagne des großen Geldes« (Albrecht Müller, damals Brandts Wahlkampfmanager und von 1973 bis 1982 Planungschef im Bundeskanzleramt) auf den Außenminister der großen Koalition (1966–1969) und späteren Regierungschef veranstaltet. Hinzu kamen gesundheitliche Probleme, Depressionen.

Reinfall für die DDR

Brandts Formulierung: »Mein Rücktritt geschah aus Respekt vor ungeschriebenen Regeln der Demokratie und auch, um meine persönliche und politische Integrität nicht zerstören zu lassen«, gehörte zum gehobenen Politklimbim, aber der Hinweis auf die persönliche und politische Integrität deutete wenigstens an, wo der oder die Urheber des Rücktritts zu finden waren. Das waren, nach dem Bild, das sich heute ergibt, in den Wochen und Monaten vor dem 6. Mai vor allem Kräfte in der eigenen Partei und den westdeutschen Geheimdiensten. Das legt auch Brandts damalige Formulierung nahe, es gebe »Anhaltspunkte, dass mein Privatleben« in den Spionagefall gezerrt werden sollte. Es bleibe jedoch »grotesk, einen deutschen Bundeskanzler für erpressbar zu halten.« Er sei es jedenfalls nicht. Die DDR hatte kein Interesse an seinem Sturz. Guillaumes Vorgesetzter Markus Wolf sprach 20 Jahre später von »Reinfall«. Er hatte in einem Brief an Brandt 1990 sein »Bedauern« darüber ausgesprochen, »dass der unter meiner Leitung stehende Nachrichtendienst der DDR zu den politisch so negativen Vorgängen beigetragen hat, die 1974 zu Ihrem Rücktritt führten«.

»Beigetragen« trifft es. Das bestätigt zum Beispiel die Historikerin Kristina Meyer in einem Artikel vom 3. April 2024 auf der Internetseite der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung: »Am 1. Mai, als Brandt sich gerade zur traditionellen DGB-Kundgebung in Hamburg befand, übergab ihm (Innenminister Hans-Dietrich) Genschers persönlicher Referent Klaus Kinkel dort ein Dossier des Bundeskriminalamts. Es enthielt Protokolle der Vernehmungen von Brandts Personenschützern, die behaupteten, Günter Guillaume habe dem Bundeskanzler während seiner Wahlkampf- und Dienstreisen regelmäßig ›Frauen zugeführt‹, möglicherweise sogar auf Staatskosten. Nach Ansicht von Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau und BKA-Chef Horst Herold bargen dieses Aussagen ein enormes Potential an Erpressung des Bundeskanzlers, und entsprechend bat Nollau den SPD-Fraktionsvorsitzenden (Herbert) Wehner, er solle Brandt den Rücktritt nahelegen.«

Meyer bezweifelt, dass an den Aussagen der Sicherheitsleute etwas dran gewesen ist. Einer von ihnen habe sich später bei Brandt entschuldigt und erklärt, »das BKA habe ihn und seine Kollegen während der Vernehmungen stark unter Druck gesetzt«. Die Historikerin setzt fort: »Nachdem er Kenntnis von jenem BKA-Dossier erhalten hatte, geriet Willy Brandt in einen psychisch sehr labilen Zustand. Einmal mehr war er von den Sicherheitsorganen enttäuscht, die offensichtlich mehr Zeit und Energie auf Gerüchte über sein Privatleben als auf den eigentlichen Spionagefall verwendeten.« Ihrer Ansicht nach sieht die Chronologie der Ereignisse nach diesem 1. Mai so aus: »Am Rande einer schon länger geplanten Klausurtagung der SPD-Spitze mit Gewerkschaftsfunktionären in Bad Münstereifel kam es am 4. Mai zu einem Vieraugengespräch zwischen Brandt und Herbert Wehner, der ohnehin längst an der Regierungsfähigkeit des Kanzlers zweifelte und ihm zwar nicht direkt den Rücktritt nahelegte, aber auch nicht widersprach, als Brandt diesen Schritt selbst ins Spiel brachte.« Am Morgen des 5. Mai habe Brandt dann die SPD-Führung über seinen Entschluss informiert, zurückzutreten. Meyer kommt zu dem Fazit: »Die Guillaume-Affäre war der Anlass, nicht aber die Ursache für den Rücktritt.«

Das sehen interessierte Leute anders. Eine jüngst ausgestrahlte arte-Dokumentation Pierre Booms, des Sohnes von Christel und Günter Guillaume, trägt den Titel »Willy Brandt und der Spion, der ihn stürzte«. So sieht es der Medienmainstream, so sieht es offenbar auch Boom, so möchte es vor allem der Verfassungsschutz als Beleg eigener Tüchtigkeit gern haben. Überzeugend wirkt das auf Historiker und Zeitzeugen nicht. FAZ-Fernsehkritikerin Heike Hupertz nannte die arte-Doku am Donnerstag »etwas schludrig« und zitiert Gerhart Baum, von 1972 bis 1978 FDP-Staatssekretär, der darin ebenfalls von »Anlass«, nicht von »Ursache« spricht. Baum: »Die SPD stellte fest, dass Brandt, ich sag’ das mal ganz hart, eigentlich nicht mehr regieren wollte.«

Das kann der Verfassungsschutz nicht hinnehmen. Er ließ sich ein Buch seiner schönsten Erfolge, mit der Verhaftung des Ehepaars Guillaume als Paradefall schreiben, aus dem vor allem hervorgeht, dass der Gegner in der DDR, das Ministerium für Staatssicherheit, den Kämpen vom Rhein immer noch schwer im Magen liegt. Das geht jedenfalls aus der Rezension des von Michael Wala verfassten Bandes »Der Stasi-Mythos. DDR-Auslandsspionage und der Verfassungsschutz« hervor, die der Politikwissenschaftler Helmut Müller-Enbergs am Dienstag in der FAZ veröffentlichte. Sein Fazit: »Unglücklicherweise wurde nicht die Arbeit der DDR-Nachrichtendienste entzaubert, sondern deutlich, dass die Geschichte der bundesdeutschen Spionageabwehr und des Falles Guillaume noch geschrieben werden« müssen. 50.000 Blatt habe der Verfassungsschutz zu seinem vermeintlichen Glanzstück in seinem Archiv, die Unterlagen der Spionageabwehr seien vor zwei Jahren freigegeben worden, aber Müller-Enbergs bescheinigt Wala: »Eine Kenntnis des Forschungs- und Literaturstandes sowie der Aktenlage in nahezu allen Fragen der deutschen Spionage und Spionageabwehr während des Kalten Krieges ist nicht zu erkennen.«

Vertrauen verspielt

Brandt selbst hatte rückblickend zu seinem 60. Geburtstag am 18. Dezember 1973 geschrieben: »Die Luft, die ich atmete, war dünn.« Dem Wahlsieger von 1972 wurden Führungsschwäche, Abgehobenheit und Krisenuntauglichkeit vorgeworfen. Hinzu kamen die Guillaumes: Nollau hatte, so Kristina Meyer, bereits am 29. Mai 1973 Genscher »über 30 konkrete Verdachtsmomente« informiert, die auf eine Spionagetätigkeit des Ehepaars für die DDR hindeuteten. Genscher habe am selben Tag Brandt in Kenntnis gesetzt, der seinen Büroleiter und den Kanzleramtschef, Nollau wiederum Wehner. Brandt folgte dem Rat Nollaus, Guillaume auf seinem Posten zu lassen, damit ungestört ermittelt werden konnte. Er nahm ihn 1973 in einen Norwegen-Urlaub mit. Der Verfassungsschutz beschattete Christel Guillaume, die das rasch bemerkte. Das Ehepaar verhielt sich ruhig, der Verfassungsschutz stellte die Ermittlungen im Herbst 1973 sogar ein. Am 1. März 1974 wurde aber Nollau ins Kanzleramt bestellt und anschließend die Bundesanwaltschaft eingeschaltet, sechs Wochen später folgte die Verhaftung. Müller-Enbergs: »Der Staat kleckerte am 24. April 1974 nicht, sondern klotzte: Vier Dutzend Beamte waren im Einsatz.«

50 Jahre danach erscheint der Vorgang als inszeniertes Beiwerk, es ging um andere Beträge. Brandt besaß offenkundig nicht mehr das Vertrauen des Großkapitals, die BRD durch die zahlreichen akuten Krisen und die sich abzeichnende Weltwirtschaftskrise steuern zu können. Bereits im Februar 1973 hatte die Brandt-Regierung versucht, mit einem »Stabilitätsprogramm« Inflation und überhitzte Konjunktur zu dämpfen. Die Antwort war eine Streikwelle im Frühjahr. Im Oktober versuchten die OPEC-Staaten, Öl als Druckmittel zu verwenden. Allein für die BRD entstanden Mehrausgaben in Höhe von damals beträchtlichen 20 Milliarden D-Mark. Die fehlten an anderer Stelle. Alles zusammen mündete 1975 schließlich in die seit 1945 tiefste Wirtschaftskrise.

Zugleich stagnierte die sogenannte neue Ostpolitik Brandts. Wehner machte seinem Unmut darüber Ende September 1973 bei einem Besuch in Moskau Luft. Kanzler und Außenminister Walter Scheel (FDP) hätten nicht nur in Ostberlin mit ihren Forderungen »überzogen«, die »Nummer Eins«, sei »entrückt« und »abgeschlafft«, bade »gern lau – so in einem Schaumbad«. Die anschließende Versöhnung blieb halbherzig.

In der Einleitung zu Band sechs der »Berliner Ausgabe« der Schriften Brandts fasste der Historiker Frank Fischer 2005 das Ende der Kanzlerschaft Brandts so zusammen: »›Wenn Ärger, Widrigkeiten, Hindernisse, Rückschläge so überhandnehmen, dass die Last die Lust tötet, wird es Zeit, die Macht abzugeben‹, analysierte Egon Bahr später. Diese Einstellung behielt für Brandt in der ersten Maiwoche des Jahres 1974 die Oberhand, so sehr er es auch in der Rückschau – mit sich, den beteiligten Personen und den Umständen gleichermaßen hadernd – für wünschenswert erachtete, in diesen entscheidenden Stunden seines Lebens anders gedacht, anders gehandelt zu haben. Ein Stoff, aus dem sich bis heute Legenden weben lassen.«

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (3. Mai 2024 um 23:07 Uhr)
    Brandts Rücktritt markierte das Ende einer Ära und den Verlust eines politischen Führers, der für Versöhnung und eine eigenständige deutsche Ostpolitik stand. Diese gesamtdeutsch orientierte Versöhnungspolitik stieß jedoch bei den noch in Deutschland stationierten Westalliierten auf Widerstand. Das Deutsche Wirtschaftswunder, gepaart mit einer engen Partnerschaft mit Russland in Bezug auf Bodenschätze, war schon immer ein Dorn im Auge der Angelsachsen. Brandt musste weg, koste es, was es wolle – und so geschah es auch. Daher blieben die genauen Gründe für seinen Rücktritt immer im Dunkeln. Die Frage, warum Brandt weder den Geheimdienstchef noch den damaligen Innenminister Genscher entließ, die für die Spionageabwehr verantwortlich waren, blieb unverständlicherweise nicht mal Gegenstand von Diskussionen und Spekulationen. Möglicherweise spielten politische Druckmittel und strategische westpolitische Entscheidungen eine größere Rolle, als es bisher bekannt ist. Brandt versuchte, eine größere mediale Erschütterung zu vermeiden, indem er seinen eigenen Privatleben in die Leidenschaft gezogen hätte und lieber die Verantwortung für den Spionageskandal auf sich nahm und seinen Rücktritt erklärte. Willy war weg, Genscher und Kinkel machten große Karriere. Politik ist ein schmutziges Geschäft!

Ähnliche:

  • Angeworben, aber nie willkommen. Italienische Gastarbeiter bei i...
    16.02.2024

    Jahrzehntelang eingeübte Muster

    Zwischen Anwerbung und Zuzugsbegrenzung – begleitet von rassistischen Kampagnen. Zur Asylpolitik der Bundesrepublik bis 1990
  • »Der tote Präsident« – Gemälde von Christoph Wetzel (1974). Abdr...
    12.09.2023

    »Der Schimmer von etwas Neuem«

    Serie. Erinnerungen an Chile und die DDR. »Unsere Leser« – kritisch, treu und meinungsstark (Teil 2)
  • Gladys Marin, Vorsitzende des kommunistischen Jugendverbandes in...
    06.09.2023

    Die Rose von Chile

    Die Solidaritätsbewegungen mit Chile in der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik im Vergleich

Mehr aus: Geschichte