junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Dienstag, 14. Mai 2024, Nr. 111
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 29.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kulturgeschichte

Punk ohne Pappe

Aus der Zeit gefallen: Henryk Gerickes enzyklopädisches Buch »Tanz den Kommunismus. Punkrock DDR 1980 bis 1989«
Von Norman Philippen
imago0093407690h.jpg
»Der Kuss«, Tableau vivant mit Ostberliner Punks, 1982

Sogenannte andere Bands mit staatlicher Spielerlaubnis (»Pappe«) für öffentliche Auftritte gab es in der DDR gegen deren Ende reichlich. Hier aber geht es um jene pappenlosen Punkbands, die auf die »Anordnung über die Befugnis zur Ausübung von Unterhaltungs- und Tanzmusik« vom 27. März 1953 mehr oder weniger fröhlich pfiffen, »die in der Illegalität aktiv waren und der Pflicht zur staatlichen Einstufung konsequent einen Spieltrieb entgegensetzten, der sich um keine Spielerlaubnis scherte«. Statt einer Einstufungskommission etwas vorzuspielen, zogen sie das Risiko der Inhaftierung jeder staatlichen Einhegung vor.

So die Ostberliner Jana Schloßer, Michael »A-Micha« Horschig und Frank Masch von der Band Namenlos (1983–87), die 1983 Haftstrafen erhielten, »welche selbst Urteile gegen die bekanntesten DDR-Oppositionellen milde erscheinen ließen«. Und nach Entlassung einfach weitermachten. Von Paragraph 212 (Widerstand gegen staatliche Handlungen) bis Paragraph 220 (Öffentliche Herabwürdigung), konnten »Halbstarke, Hippies und Punks … von einer elastischen Vielfalt berüchtigter Gummiparagraphen gemaßregelt werden«, erinnert Autor Henryk Gericke. Als Sänger von The Leistungs­leichen, blieb ihm und seiner punkgemäß kurzlebigen Berliner Band »eine obere Chartplatzierung in den Listen der Staatssicherheit verwehrt bzw. erspart, denn The Leistungsleichen spielten nur ein Konzert in einer Hinterhofwohnung«.

Viel mehr Auftrittsmöglichkeiten hatten auch die anderen DDR-Punkbands nicht, die zwangsläufig untergründig agieren mussten und Konzerte oft nur dank gnädig gewährtem Kirchenasyl spielen konnten. Touren war so wenig drin wie professionelle Studioaufnahmen, die sowieso nicht auf ordentlichen Tonträgern hätten verbreitet werden können. Mit rudimentärstem, oft selbstgebastelten Equipment rumpelte man Schwerverstehbares auf überspielte Kassetten; auf 44 Tonbeispiele verweist der im Buch abgedruckte QR-Code.

Zum vom britischen, im Osten wie im Westen als vermittelnde Instanz geschätzten, Radiomoderator John Peel beschworenen »Geist einer subkulturellen Internationale« ließ sich so wenig beitragen. Die grenzüberschreitende Untergrundunterhaltung lief unidirektional von West nach Ost. Und da die Gesprächskanäle rar waren, konnten Ostpunks, die verpasst hatten, dass Peel bis 1983 auch die Misfits aufgelegt hatte, von den US-amerikanischen Horrorpunks aus New Jersey nicht unbedingt wissen. So wie die vermutlich 1980 gegründeten Misfits aus Potsdam, die es mit »Keine Zukunft« – »einer heldenhaften Eindeutschung, die am Original nur scheitern konnte« – 1986 immerhin auf die West/Ost-Kompilation »Spiel ohne Grenzen« (T.N.T.) schafften. Von ihrem »Durchbruch im Westen« wusste die Band allerdings nichts, da die Aufnahme – wie selten, aber üblich – auf unbekannten Wegen den kleinen Grenzverkehr durchlief.

Zu dieser Zeit hatten die DDR-Oberen ihren Punkrockschock bereits einigermaßen verkraftet und eingesehen, dass ein paar hundert Leute mit Durst und was in den Haaren wohl eher nicht des Staates größte Bedrohung waren. Aus dem Jugendrundfunkprogramm DT64 wurde ein eigener Sender, der auch »die anderen Bands« spielte, gelegentlich sogar solche ohne »Pappe«. 1989 war es schließlich soweit, dass – die Junge Welt berichtete – FDJ-Sekretäre gar »im intensiven Austausch« mit »ein paar Kinderpunks« gesehen werden konnten. Da war die »Subkultur, deren Poesie nach 1990 nie im Westen ankam und die letztlich mit dem Big Bang der deutschen Einheit nicht nur aus einem anderen Land kam, sondern aus der Zeit fiel«, schon so gut wie tot.

Wie zwischen 1980 und 1990 die punkigen »Positionslichter einer Subkultur in den finsteren Verhältnissen« blinkten, erzählt Henryk Gericke in 39 Kapiteln über noch weit mehr DDR-Punkbands, die in »Tanz den Kommunismus« soziokulturell an vielen Stellen aufschlussreicher und in besserer Ordnung und Diktion gereicht werden, als viele einschlägige Publikationen es bislang leisteten. Ein abschließendes Werk zum Thema.

Henryk Gericke: Tanz den Kommu­nismus – Punkrock DDR 1980 bis 1989. Verbrecher-Verlag, Berlin 2024, 280 Seiten, 20 Euro

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Ähnliche:

  • »Die Welt in der Episode, augenzwinkernde Tiefgründigkeit« – die...
    26.03.2024

    DDR konkret

    »Alltag besingen, wie er ist«. Zum 80. Geburtstag des Liedermachers Reinhold Andert
  • In den Westen gelockt: Über Ungarn ausgereiste DDR-Bürger am 11....
    28.04.2023

    Sekt zum Abschied

    Die von Ingrun Spazier herausgegebenen »Briefe aus der DDR 1989–1990« zeichnen die Ereignisse der »Wende« nach
  • Der Leichtathlet Robert »Bob« Beamon zu Besuch in der DDR. Die E...
    03.12.2022

    Mut zur Lücke

    Oder: Was nicht in der Zeitung stand. 75 Jahre junge Welt. Ein Blick zurück (Teil 6 und Schluss)

Regio:

Mehr aus: Feuilleton