Kritische Lage bei Charkiw
Von Reinhard LauterbachDie russische Offensive im Bezirk Charkiw hat die Ukraine offenkundig auf dem falschen Fuß erwischt. Der ukrainische Generalstab gab am Dienstag morgen bekannt, dass seine Truppen sich ins Dorf Lukjanzy etwa sechs Kilometer von der Grenze zurückgezogen hätten. Am Dienstag mittag teilte dieselbe Quelle mit, dass die ukrainischen Einheiten »zur Vermeidung unnötiger Verluste« auch diese Ortschaft in Richtung »geeigneterer Abwehrpositionen« verlassen hätten. Auch aus dem weiter östlich gelegenen Wowtschansk, einer zweiten Achse der russischen Offensive, wird von schweren Kämpfen um die inzwischen zerstörte und menschenleere Stadt berichtet.
Unter dem Eindruck solcher Meldungen zeichnete der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes GUR, General Kirill Budanow, am Dienstag gegenüber der New York Times ein »düsteres Lagebild«, wie es im Titel des Beitrages heißt. Budanow wird mit der Aussage zitiert, die Lage sei »kritisch« und könne jederzeit »dramatisch« werden. Die Ukraine habe keine Reserven mehr, die sie an gefährdete Frontabschnitte schicken könnte, ohne andere zu entblößen. Jederzeit könne Russland eine weitere Offensive im nordwestlich anschließenden Bezirk Sumi starten. Dem Parlamentsabgeordneten Max Buschhanskij von der Präsidentenpartei »Diener des Volkes« fiel dazu nur der Vorwurf ein, so etwas sage man doch nicht ausländischen Journalisten.
In Kiew traf am Dienstag überraschend US-Außenminister Antony Blinken ein. Das Wall Street Journal nannte zwei Gründe für den Besuch: »die Moral der ukrainischen Regierung zu stärken« und »dafür zu sorgen, dass die US-Hilfe in die richtigen Kanäle geleitet wird«. Vor der Presse erklärte Blinken, die USA seien sicher, dass die Ukraine »in Zukunft auf eigenen Beinen stehen« werde, und seien bereit, dabei zu helfen.
Parallel dazu dämpfte Bundeskanzler Olaf Scholz die Erwartungen an die Ukraine-Konferenz, die im Juni in einem Nobelhotel auf dem Bürgenstock bei Luzern stattfinden soll. Dem Stern sagte er, dort werde nicht über den Frieden verhandelt, sondern allenfalls über Details wie den Schutz der ukrainischen Atomanlagen. Bestenfalls sei das Treffen »der Einstieg in einen Prozess, der zu direkten Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland führen könnte«.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (15. Mai 2024 um 10:51 Uhr)Es ist offensichtlich und verständlich, dass seit ihrer Neugründung im Jahr 1991 die Ukraine Schwierigkeiten hatte, das Land eigenständig zu führen. Dies führte letztendlich zum Maidan-Putsch. Wie fehlgeleitet waren die Erwartungen des Westens, dass ein Land, das bereits in Friedenszeiten Probleme hatte, im Kriegszustand mit Russland standhaft und stabil bleiben könnte. Was für eine politische Naivität! Die ukrainische Front zeigt Risse. Woche für Woche verliert das Land Gebiete an die russischen Angreifer. Von einem großen Durchbruch kann zwar noch nicht gesprochen werden, doch die Verluste und die neue Angriffsachse auf Charkiw könnten besorgniserregende Vorzeichen dafür sein, dass der ukrainische Widerstand gegen die Militärmacht Russlands nicht mehr ausreicht. Der Angriff im Norden der zweitgrößten Stadt der Ukraine kommt nicht überraschend. Seit Wochen hat Russland Truppen in diese Region verlegt. Auch wenn nicht davon ausgegangen werden kann, dass Charkiw demnächst eingenommen wird, verschiebt sich das Kräfteverhältnis mehr denn je zugunsten von Russland. Es scheint, dass weder die bilateralen Sicherheitszusagen der westlichen Staaten noch die Ukraine-Friedenskonferenz in der Schweiz Mitte Juni der Ukraine in dieser Hinsicht helfen können. Russland hat entschlossen gehandelt, und nach anfänglichen Schwierigkeiten hat der Kreml gelernt, ihre Fehleinschätzungen zu korrigieren. Nun ist Moskau entschlossen, sein offengelegtes Ziel bezüglich der Ukraine mit allen Mitteln zu erreichen. Russland ist nicht mehr bereit, Kompromisse einzugehen. Es wird immer klarer, dass »Diplomatie« ohne militärische Stärke bedeutungslos ist: Wenn der Westen nicht bereit ist, mit Lawrow zu sprechen, dann muss er in Zukunft mit Andrej Beloussow sprechen!
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (15. Mai 2024 um 17:03 Uhr)»… dann muss er in Zukunft mit Andrej Beloussow sprechen!«. Könnte sein, dass das bei zukünftigen Verhandlungen von Vorteil ist. Beloussow ist, wie man liest, Wirtschaftswissenschaftler. Vielleicht versteht er es besser als Lawrow, dem Westen Angebote für die Nachkriegszeit zu machen, in einer Tonlage, die man im Westen, v. a. in den USA, schätzt und versteht. Hoffentlich obsiegt vorher in Washington, London und Brüssel die Vernunft über die Ideologie des Krieges und über die innere Dynamik westlicher Kriegstreiberei. In Moskau weiß man schon, dass verhandelt werden muss, wenn das Allerschlimmste verhindert werden soll.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (16. Mai 2024 um 14:07 Uhr)Zunächst einmal hätte ich nichts dagegen, wenn die von Ihnen beschriebenen Geschichte, genauso ablaufen würde. Auf der anderen Seite, wie man liest, ist »Beloussow ein Wirtschaftswissenschaftler« – ein Technokrat im Machtapparat. Daher wurde er zum Verteidigungsminister ernannt, mit dem Ziel, sicherzustellen, dass die beträchtlichen Mittel, die in das Militär fließen, effizient und wirkungsvoll eingesetzt werden. Er fungiert als wirtschaftlicher Wächter des Kremls über den verschwenderischen Militärapparat, um einen Überblick zu behalten und den Ballast in den notwendigen Militärausgaben zu kontrollieren.
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