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Aus: Ausgabe vom 02.05.2024, Seite 12 / Thema
Fußball EM in Deutschland

Aufmarschort Arena

Serie. Fußballstadien sind ein ideales Terrain für Notstandsübungen. Wie Einsatzkräfte in verteilten Rollen den Aufruhr der Kurven proben. Staatsfeind Fan (Teil 2)
Von Oliver Rast
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Mörderisches Schreckensszenario: Die Mainzer Polizei probt die »Ernstlage« – im Stadion (Mainz, 18.11.2023)

Das Stadion, ein Einsatzort. Für allerlei Übungen, für allerlei Spektakel; für ein bisschen Ausnahmezustand, für ein bisschen Notstand. Ferner das räumliche Umfeld der Spielstätten, nicht zuletzt An- und Abreisewege. Alles gefährliche Gebiete, potentiell jedenfalls. Die Zielpersonen, im polizeilichen Fachjargon abgekürzt ZP, sind im Regelfall: Fans, vorrangig die dynamischen, enthusiastischen unter ihnen. Wer sonst.

Behörden sind bei ihren »Events« erfinderisch, kreieren Drehbücher für fiktive Einsatzlagen, schauspielern Realität. Die Inszenierungen, bisweilen bizarr und tragikomisch. Drei örtliche Fallbeispiele aus den zurückliegenden zwei Jahren amtlicher Bühnenkunst sollen zur Illustration genügen: Paderborn, Hamburg, Mainz.

Fakeaufzug in Ostwestfalen

Es sieht aus wie ein Corteo: ein Fanmarsch im herbstlichen Ostwestfalen im Oktober 2022, zum Stadion des SC Paderborn 07. Der Tross von rund hundert Personen – phänotypisch männlich-sportlich-dynamisch – hat sich hinter dem Frontbanner versammelt. Ein schmuckloses Textil, blütenweißer Stoff, schmale waldmeisterfarbene Letter: »Grünes Blut fließt durch unsere Adern.« Dazu ein Cliquenkürzel »GWD«, ausgeschrieben: »Grün-Weiß Dynamo«. Ein Bekenntnis, das Kohorten von Einsatzkräften mobilisiert. Die scharen sich in voller Montur samt Kolonnen von »Wannen« um den Aufzug. Auch das ein üblicher Escortservice für Anhänger des Fußballsports. Spieltag für Spieltag.

Aber halt, bei näherem Blick auf die Fotostrecke auf den Hochglanzseiten wird klar: das ist ein Schauspiel, eine Trockenübung teils mit Rollentausch. Auf beiden Seiten Polizisten. »Im Trainingslager für die Fußball-EM. Üben mit Störern aus eigenen Reihen«, titelt Streife, das im Quartal erscheinende »Magazin für die Polizei in Nordrhein-Westfalen«, in seiner 44seitigen Jahresauftaktnummer 2023. Aufschlussreich die Unterzeile der Topstory im Reportagestil: »Vor dem Stadion: Jasmin Schulte-Ortbeck (37) leitet die 9. Gruppe der Bereitschaftspolizei Recklinghausen und holt Randalierer aus dem Fanbus.« Wahrlich: Einsatz mit zeitweisem Freiheitsentzug, Feindbild geklärt.

Auf die illustrierte Handreichung für uniforme Praktiker machte den Autor unlängst ein Fanvertreter aus NRW aufmerksam. Die Lektüre für den legeren Zeitvertreib liege im Foyer des Landesinnenministeriums in Düsseldorf herum. Kein Wunder, das Streife-Editorial verantwortet Ressortchef Herbert Reul. Die Vorbereitungen für die Europameisterschaft im Sommer 2024 in Deutschland liefen auf Hochtouren, schreibt der CDU-Politiker. Zumal vier von zehn Austragungsstätten im bevölkerungsreichsten Bundesland liegen. Hunderttausende Friedfertige kämen an Rhein und Ruhr, der Minister erwartet auch »Hooligans und andere Krawallmacher«. Um gewappnet zu sein, übten »Fakefans« im EM-Vorfeld spielerisch den Notstand. Wohlgemerkt: »Fakefans«, ein Ausdruck Reulscher Formulierungskunst.

Damit der Ablauf der EM krisenfrei bleibt, gibt es eine Projektgruppe. Die hat der Unterausschuss »Führung, Einsatz und Kriminalitätsbekämpfung« (UA FEK) des »Arbeitskreises II« (Innere Sicherheit) der Innenministerkonferenz (IMK) einberufen. Polizeien aller Länder und des Bundes sind dort vertreten, ferner je ein Abgesandter der AG Kripo und des Strafrechtsausschusses der Justizministerkonferenz. Eine Plattform zum Informations- und Erfahrungsaustausch. Im UA FEK laufen alle Fäden der Vorbereitung auf die EM zusammen. Der Job: Ein bundesweit einheitliches Rahmenkonzept für »Team Grün« entwickeln samt »hoher Sicherheitsstandards«, heißt es in Streife. Hinzu kommt: Im Vergleich zur Fußballweltmeisterschaft seien beim europäischen Wettbewerb mehr Partien zu erwarten, bei denen sich »rivalisierende oder feindschaftliche Fanverhältnisse ergeben«, meint Projektgruppenchef Dirk Hulverscheidt. »Fanverhältnisse«, obendrein konflikthafte, auch wieder so eine Sprachperle aus dem Behördenapparat.

Chef vom Chef ist Norbert Radmacher. Seit Januar 2023 sitzt der Inspekteur der Bayerischen Polizei dem UA FEK vor, damals öffentlich präsentiert vom Innenminister des Freistaats, dem Christsozialen Joachim Herrmann. Wegbegleiter Radmachers sprechen von einer »Bilderbuchkarriere« des Juristen. Der 1975 in Buchloe im bayerisch-schwäbischen Landkreis Ostallgäu Geborene war erst 2015 in den Polizeivollzugsdienst gewechselt, stieg beruflich rasch auf – und leitete beispielsweise 2020 den Einsatz bei der Münchner Sicherheitskonferenz (Siko). Eine von zahlreichen Bewährungsproben, die Radmacher mit Bravour bestanden haben soll.

Verbotenes Übermaß

Zurück nach Ostwestfalen. Liegt Krawall in der Luft, kommt die Stunde für die 37jährige Polizeihauptkommissarin aus der Unterzeile der Streife-Headline. Sie leitet nämlich Zugriffskräfte, die angeblich identifizierte »Randalierer und Störer« etwa aus Reisebussen herausholen sollen. Der Stoßtrupp gehe indes erst »rein«, wenn äußere und innere Absperrung des Areals stehen, und die sogenannte Bearbeitungsstraße, in der »Fankriminelle« erfasst werden, eingerichtet worden ist. Soviel Vorarbeit der Kollegen muss sein.

Was sagen Paderborner Klubbosse zu den Kulissenschiebern vor ihren Stadiontoren? »Profifußball ist ohne Polizei aktuell nicht mehr möglich«, wird deren CEO Martin Hornberger in Streife zitiert. Bloß, wer verschärft die Lage tatsächlich? An vorderster Front stünden oft Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten, kurz BFE, der Landespolizeien und Bundespolizei, sagte der Dortmunder Rechtsanwalt Stefan Witte gegenüber dem Autor. Diese seien häufig an Eskalationen beteiligt »und treten auch nicht kommunikativ auf«, weiß das Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Sportrecht im Deutschen Anwaltverein. Alles abwegig, findet Erich Rettinghaus, NRW-Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), auf Nachfrage. Warum? Jegliches Einsatzmittel der BFE obliege der Zweck-Mittel-Relation unter Beachtung des Übermaßverbots; besser bekannt als Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, einem Kernelement des Rechtsstaats.

Alles verhältnismäßig, alles ohne Übermaß? Aktive Fans aus dem Westfälischen kontern. Beispiel Drohnen. Diese würden »mittlerweile bei fast jedem Spieltag eingesetzt«, berichtete ein Sprecher der Fanhilfe Dortmund. Zum anlasslosen Filmen von Stadiongängerinnen und Stadiongängern. Die örtliche Polizei rechtfertige solche Spähflüge für eine »Gefahrenprognose« allein mit der Personendichte rund um das Westfalenstadion. »Wir prüfen das gegenwärtig und werden diese Praxis gegebenenfalls gerichtlich bewerten lassen.« Ausgang offen.

Nur, was sonst tun? Das einfachste wäre, so Fanhelfer vom Drittligisten SC Preußen Münster, weniger Polizeipräsenz im Umfeld von Fußballspielen. »Das vermeidet zahlreiche Konflikte.« Nebenbei Überstunden durch rumstehen oder im Wagen sitzen. Und nicht zuletzt inszenierte Lehrausflüge von »Team Grün« in die Welt einer nicht verstandenen Fankultur.

Checkpoint Bergedorf

Das klingt kess: »6 Stunden Bergedorf habt nicht mal ihr verdient! ACAB«, steht in nelkenroten Druckbuchstaben auf einer Wandtapete mitten in der Südkurve des Fanaktivs des FC St. Pauli. Es ist Sonntag mittag, 18. Februar 2024, Millerntorstadion. Die Zweitligapartie zwischen den »Kiezkickern« und Eintracht Braunschweig läuft, Aufstiegsaspirant trifft auf Abstiegskandidaten. Der Schriftzug in der Kurve ist eine Geste, eine ironisierte Solibotschaft an die großstädtische Ultrakonkurrenz des Hamburger Sportvereins, des HSV.

Warum der Spruch zum (Zwangs-)Aufenthalt am Hamburger Stadtrand? Abends bzw. nachts zuvor setzte die Bundespolizei aus Rostock heimkehrende HSV-Fans am Bahnhof Bergedorf fest, das vorläufige Ende einer Auswärtsfahrt. »Im Rahmen der Kontrolle wurden 855 Personen von etwa 400 Einsatzkräften überprüft«, schreibt die Bundespolizeiinspektion Hamburg, die mit ihren Kollegen aus Karlsruhe kooperierte. Die sogenannten Identitätsfeststellungen dauerten mehr als sechs Stunden, amtlich exakt: »Am 17. Februar 2024 im Zeitraum von 20:10 Uhr bis 02:20 Uhr.« Was dann schon der Folgetag war. Davon abgesehen, zufällig dürfte der bundespolizeiliche Aufmarsch in Bergedorf nicht gewesen sein. Dazu gleich.

Klären wir kurz, was am außerplanmäßigen Stopp an einem gewöhnlichen Durchgangsbahnhof für S-Bahn, Regional- und Fernverkehr »unverdient« sein könnte, wie die Pauli-Ultras plakativ bemerkten. Bergedorf ist der südöstlich gelegene Bezirk der Hansestadt – mit gleichnamigem Stadtteil, dem historischen Kern. Der flächenmäßig größte der sieben Hamburger Distrikte mit den wenigsten Einwohnern. Dafür mit vergleichsweise viel Garten- und Ackerbau sowie Naturschutzgebieten direkt an der schleswig-holsteinischen bzw. niedersächsischen Landesgrenze. Die Station Bergedorf ist mit der S-Bahn 20 Minuten vom Hauptbahnhof der Metropole entfernt, wirkt als ehemals eigenständige Kleinstadt aber weit ab vom Schuss – trotz Campus der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW).

»Äh, Bergedorf, ist das noch Hamburg?«, fragen also jene, die den Stadtteil mit seiner »suburbanen Vorstadtromantik« samt akkuraten Vorgärten von Mittelschichtseinfamilienhäusern gemeinhin nur durchfahren. Bergedorfs Ambiente wirkt eher unwirtlich, für Fußballprolls und Ultra­fans allemal. Dem Planungsstab der Bundespolizei dürfte das indes herzlich egal sein. Als »Eingreifbahnhof« – ja, so heißt das behördlicherseits – hatten Beamte in Bergedorf extra eine Bearbeitungsstraße für die Personenüberprüfungen aufgebaut. Der Anlass? Der war zunächst für die Betroffenen von »Nur der HSV!« nicht ersichtlich. Rasch folgte die Aufklärung.

Rückblende: Wir bleiben gleichsam bei Haltestellen, blicken nach Mannheim, Hauptbahnhof. Einer der häufigen Umsteigeorte im Fanalltag, ein neuralgischer Punkt. Auswärtsfahrer aus der gesamten Republik kreuzen sich hier: örtlich, zeitlich. Wie am 16. September 2023, einem spätsommerlichen Samstag, knapp 29 Grad Celsius. Fans des HSV waren auf dem Weg zum Kick in Liga zwei beim SV 07 Elversberg im saarländischen Landkreis Neunkirchen; Fans von Borussia Dortmund hingegen zog es zum erstklassigen Gastauftritt in den Breisgau zum SC Freiburg. Bahnverbindung und Zugverspätung hatten es möglich gemacht, beide Ausflugsscharen trafen vormittags gegen 10.35 Uhr in der Bahnhofsunterführung aufeinander. BVB- und HSV-Ultras, rund 200 gegen 80, clinchten ein wenig, Flaschen flogen, schwer war der Landfriedensbruch nach Angaben der zuständigen Bundespolizeiinspektion Karlsruhe. Schlagstock und Pfefferspray beendeten das Kräftemessen der Kontrahenten. »Die Auswertung der Videoaufnahmen im Hauptbahnhof Mannheim soll nun unter anderem Aufschluss über den Tathergang sowie weitere beteiligte Anhänger beider Gruppierungen geben«, hieß es in einer Pressemitteilung der Behörde.

Offenbar werteten Analysten Bildmaterial zügig aus. Unter Beihilfe von Super Recognisern, »Gesichterprofis«. Die haben die seltene Gabe, sich Visagen gut einprägen und selbst nach Jahren in Menschenmengen wiedererkennen zu können. Hinsichtlich der Vorfälle am Mannheimer Hauptbahnhof war das wohl erfolgreich. 31 Tatverdächtige sollen der Bundespolizei zufolge nach stundenlanger Zwangskontrolle ermittelt worden sein. Das veranlasste den Einsatzleiter, Polizeioberrat (POR) Jan Müller laut Mitteilung zu einem kriminalistischen Exkurs: Landfriedensbruch sei eine schwerwiegende Straftat, »die die Sicherheit und den Frieden unserer Gesellschaft bedroht«. Alle verfügbaren Ressourcen würden eingesetzt, um Gesetzesbrecher zu identifizieren. POR Müller, um keinen Schachtelsatz im Nominalstil vorzulegen, legte nach – ungeschnitten: »Mit den Kontrollmaßnahmen rücken wir den stets vorhandenen, nicht hinwegzudenkenden Selbstanspruch der Bundespolizei in bezug auf die Gewährleistung der Sicherheit im schienengebundenen Fußballfanreiseverkehr in den Blickpunkt und verleihen dem Strafverfolgungsanspruch des Staates eine besondere Bedeutung.« Satzbau, für den Einsatzleiter aus dem höheren Dienst mit zwei güldenen Sternchen auf den Schulterklappen also eine komplizierte Sache. Polizeidirektor (PD) Reinhard Pürkenauer wollte dem nicht nachstehen. Akribie bei der Beweisführung und ein entschlossenes Vorgehen der ermittelnden Bundespolizeidienststellen setzten ein deutliches Zeichen gegenüber »Fußballstörern«, so der Karlsruher Inspektionsleiter der Bundespolizei. Straftaten im Fußballfanreiseverkehr würden nicht toleriert. Punktum.

Generalprobe in Gruppenstärke

Warum die massenhafte Identitätsfeststellung von HSVern in Bergedorf, warum an diesem Bahnhof? Zufall? Wohl kaum. Die Generalprobe selbenorts lag bereits Monate zurück, Ende Oktober 2023. Damals schon war die Stimmung hitzig, oder besser: inszeniert. Das Skript zu den Sequenzen für die knapp 500 Übungswilligen: Einige trommeln mit Fäusten auf einer koksschwarzen Mülltonne, andere mit ihren Handballen. Einige haben Handschuhe übergestreift, andere nicht. Einige haben die Mütze ihres Hoodies tief ins Gesicht gezogen, andere ihren Schlauchschal über die Nasenspitze. Rhythmisches Klatschen setzt ein, aschgrauer Qualm wabert durch die Meute. Ein Rauchtopf, der Atmosphäre wegen. Nun springen alle auf der Stelle auf und ab, grölen, es hört sich an wie »Schalalalalala!« Die »Gruppe Rotland« legt sich kräftig ins Zeug, macht Rabatz. Das ist ihr Auftrag, so wollen es die Vorgesetzten. Kameraleute des NDR dokumentieren das Spektakel auf der Nordseite des Bahnhofs gen Stadtteil Lohbrügge. Für einen dreieinhalbminütigen Beitrag, ausgestrahlt im Hamburg-Journal Anfang November des zurückliegenden Jahres.

Stichwortgeber ist André Borchert, braunes, halblanges Haar locker wellig nach hinten gekämmt, am Haaransatz gräuliche Schläfen samt Spuren von Gel, Koteletten bis zu den Ohrmuscheln. Immer wieder richtet der Einsatzeiter der Bundespolizeiabteilung Ratzeburg sein Headset aus, das Mikro vor den linken Mundwinkel. Er ist immer auf Empfang, immer bereit für den Sprechbefehl zum Folgeakt der Performance. Er muss schließlich die Übersicht behalten im Getümmel – und die »embedded journalists« unterhalten.

Der Rivale von »Gruppe Rotland« ist »Blauland«, gleichfalls in Gruppenstärke am Start. Die »Roten« sollen von den Einsatzkräften zunächst per Sonderzug der S-Bahn »sicher von A nach B« gebracht werden. Borchert will dabei Stresslevel und Pulsschlag aller Beteiligten hochhalten. Pöbeleien und Körperkontakt in den Waggons, von der Station Bergedorf zur Station Stellingen. Ein instruierter »Rotland«-Kollege zieht die Notbremse, tumultartige Szenen auf dem Bahnsteig. Kurzes Einschreiten, Lage beruhigt, Borchert blickt zufrieden. Und: Signal zur Weiterfahrt. Alsdann geht es zu Fuß bis zum Volksparkstadion. Obacht! Die »Blauländer« lauern am Wegesrand hinter Hecken und Gebüschen, suchen die erlebnisorientierte Begegnung mit dem »roten« Gegenpart, sie stoßen lauthals vor. Als »friedensstiftender Puffer« dazwischen, na klar: physisch und psychisch belastbare Hundertschaften der Bundespolizei. Die trennen couragiert die verfeindeten Lager. Es habe zwar ein paar Blessuren gegeben, »das lässt sich in der Aktion nicht vermeiden«, weiß Einsatzchef Borchert. Aber nichts Ernsthaftes, alles halb so schlimm.

Durchexerzierter Einsatz, Etappe für Etappe, das gefiel den Teilnehmern sichtlich – nebst Rangeleien und dem einen oder anderen kollegialen Hieb. Einem »Rotländer« ganz besonders: »Ich muss ehrlich zugeben, es macht schon ein bisschen Spaß«, sagt der Proband in die NDR-Kamera. Ein Jungspund, einer aus der Lübecker Bundespolizeiakademie. Weiche Gesichtszüge, schmaler Oberlippenbart, fescher Fassonschnitt; kurz: Typ Muttis Liebling, der manchmal böse tut, und seine pechschwarze Sonnenbrille aufsetzt.

Weniger Spaß hatte die Fanhilfe Nordtribüne nach der sechsstündigen Zwangsmaßnahme am Bergedorfer Bahnhof. Die Heimkehrer aus Rostock waren übermüdet, wurden nur mangelhaft am »Checkpoint« versorgt. Und eh, der gesamte Einsatz war »willkürlich, unverhältnismäßig und rechtswidrig«, erklärten die Rechtshelfer der HSVer. Eine weitere Reaktion: Im Spiel der »Rothosen« im Volksparkstadion gegen die SV Elversberg am 25. Februar dieses Jahres präsentierte die heimische aktive Fanszene eine Choreo, anlassbezogen unter dem Motto »Niemals Freund, niemals Helfer. Ganz Hamburg hasst die Polizei«, dazu mittig ein verfremdetes Stadtwappen, statt das Motiv der Burg mit drei Türmen, das Akronym »ACAB«.

Eine Meinung, die der Klubspitze überhaupt nicht passte. Hektische Distanzierungen und Selbstvorwürfe, wie »eine solch unangebrachte Choreo« im »Wohnzimmer Volksparkstadion« nur präsentiert werden konnte. Mit den Choreourhebern werde in einen »sehr kritischen internen Dialog« getreten, ferner der »vertrauensvolle Austausch mit Polizei und Behörden« gesucht. Stichwort »suchen«. Gesucht auch das für »Sportgewalt« zuständige Hamburger Landeskriminalamt, das LKA 124. Die Ermittler wurden Medienberichten zufolge in einem von Ultras benutzten Raum im Volksparkstadion fündig. Eine kleine Spieltagsblockfahne. Das Motiv: aus dem Visier eines kaputten Polizeihelms läuft Blut. Der Vorwurf: Verdacht des öffentlichen Aufrufs zu Straftaten. Zuvor soll es Hinweise gegeben haben, dass ein ermittelter 33jähriger das Fähnchen dort »versteckt haben könnte«, mutmaßte die Hamburger Morgenpost. Für den städtischen GdP-Vize Lars Osburg ist klar: Oftmals stünden Motive und Parolen solcher Art am Anfang gewalttätiger Angriffe auf die Polizei.

Mainzer Attentatsspiele

Trüb und grau, nass und kühl. Novemberwetter halt. Auch im vergangenen Jahr an einem Samstag vormittag in der MEWA-Arena gut 30 Stunden vor einer Bundesligapartie des 1. FSV Mainz 05. Die Gastmannschaft ist beim öffentlichen Abschlusstraining, übt Passspiel und Laufwege, zuletzt Flanken in den Torraum. Sicher ist sicher, Treffer ist Treffer. Kritisch beäugt von einem Pressetross. Servicepersonal wuselt derweil in den Gängen der Arena, errichtet mobile Verkaufsstände, bevorratet Kühltruhen mit Standardkulinarik, alles, was Gaumen und Schlund des »Durchschnittsstadiongängers« erfreut: Bouletten, Curry-, Rostbrat- und Bockwürste, dazu Pommes . Nicht zu vergessen: Bier, fässerweise; Limonaden, kistenweise. Mittenmang Leute in neongelben Warnwesten. Ordnung muss sein, auch beim Aufbau. Es ist so wie immer. Routine. Mitnichten!

Die Szenen, die folgen, schocken: Sprengladungen detonieren, wie aus dem Nichts. Es knallt, es scheppert, gefühlt minutenlang. Projektile peitschen durch das weite Rund, Salven aus Sturmgewehren, eine nach der anderen. Attentäter zielen auf Personen, wahllos. Wie viele herumballern, bleibt anfangs unklar. Zu unübersichtlich ist die Situation, Panik bricht aus. Menschen suchen Deckung, krümmen ihren Leib, machen sich klein, schlagen dabei Hände und Arme über den Kopf. Für einige vergeblich. Ein lebloser Körper liegt zwischen betongrauem Treppenabsatz und granatroten Klappsitzen. Weitere Tote hängen über der Balustrade am Spielfeldrand oder liegen vor und hinter der Außenlinie auf dem Rasen. Selbst Dutzende Meter entfernt, sind Einschlusslöcher in den regungslosen Leibern erkennbar. Ein Horror.

Unterdessen gehen in der Führungszentrale des Mainzer Polizeipräsidiums Notrufe ein; erst einer, dann ein zweiter, ein dritter. Der Tenor der Anrufer: Mehrere Männer schießen wild um sich, melden verschreckte, verängstigte Stimmen am anderen Ende der Leitung. Die Einsatzsachbearbeiterin in der Zentrale ordert umgehend Einsatzkräfte, auch Einheiten von Spezialeinsatzkommandos, SEK. Tempo ist gefragt, jede Minute zählt, jede Sekunde. Kolonnen von Polizeifahrzeugen rasen unter Sirenengeheul zum Stadion – und stoppen auf dem Vorplatz zum Eingangsbereich der Arena. Reifen quietschen schrill, Autotüren klacken auf und zu, ein Meer von Blaulichtern. Großeinsatz.

Schüsse sind indes nur noch vereinzelt zu hören, dann ist Ruhe. Stille, Totenstille. Haben die Bewaffneten ihre Magazine leer gefeuert? Haben sie sich mit Geiseln verschanzt? Oder haben sie die Flucht ergriffen und wollen entkommen? Alles denkbar, alles möglich.

Nun rücken Polizeikräfte aus der Bereitschaft in Schutzausrüstung und mit Maschinenpistolen im Anschlag vor. Das Adrenalin durchströmt alle Glieder aller. Es geht durch schwere Metalltore Richtung Zuschauerränge. Wenige Augenblicke später ein Feuergefecht, zwei Angreifer sind getroffen, fallen zu Boden, werden sofort umringt, fixiert. Bloß, war es ein Duo? Vermutlich nicht, Zeugen wollen übereinstimmend drei Bewaffnete gesehen haben. Das SEK übernimmt, checkt das Areal weiter, dringt in den Kabinentrakt; dort ist er, der Dritte. Ein Quartett SEKler stellt den letzten Terrorverdächtigen, ergeben will er sich nicht. Im Gegenteil, er richtet seine Pistole auf die Beamten, die reagieren schneller, zielen auf den Oberkörper, drücken ab. Getroffen, aus kurzer Distanz. Der Angreifer sackt zusammen, offenbar tödlich verletzt.

Entwarnung, zunächst zumindest, meldet der Spezialtrupp über Funk an die Zentrale. Während des Scharmützels in der Umkleide haben Kollegen das Stadion geräumt, Anwesende geordnet im Laufschritt aus der Gefahrenzone begleitet. Auf dem Vorplatz stehen Krankenwagen bereit, die medizinische Erstversorgung Betroffener kann beginnen, auch die psychosoziale Betreuung.

Zur Beruhigung, es war alles nur gespielt, die Probe eines Ernstfalls. Die Toten Dummys, die Attentäter Polizisten im »falschen Kostüm«. Solcherlei Großübungen haben einen mehrmonatigen Vorlauf, so der Stab des Mainzer Polizeipräsidiums im Nachgang stolz. »Neben der Lokalisierung und Bekämpfung der Täter wird die Evakuierung des Stadions und die Betreuung der teils traumatisierten Zuschauer geübt.« Rund 100 polizeiliche Einsatzkräfte waren vor Ort, daneben Angehörige der Feuerwehr, des Deutschen Roten Kreuzes und der Johanniter. Knapp 200 Statisten mimten ihre Tagesrolle. Eine komplette Kulisse für den inszenierten Terror.

Ernste Lage

Ein mörderisches Schreckensszenario, für das sich Zahlreiche lebhaft interessierten: Beobachter von Polizeien und Behörden aus dem Bundesgebiet, aus Österreich, Luxemburg und der Schweiz, ferner der parteilose Oberbürgermeister Nino Haase und der Landesinnenminister Michael Ebling (SPD). Alle wollten sich ein Bild vom Lagebild machen. »Das Üben solcher Einsatzszenarien ist sehr aufwendig, aber von äußerster Bedeutung, um im Ernstfall handlungsfähig zu sein und Menschenleben zu retten«, sagte Minister Ebling beim Arenabesuch. Standardformeln als Resümee. Zur Schlussbetrachtung gehört erwartbar gleichfalls: Die »geprobte Ernstlage« sei erfolgreich abgeschlossen worden. Und das sollte breit publik werden. Die Showeinlage im großen Stil war zugleich eine PR-Nummer. Die Polizei Rheinland-Pfalz verbreitete über ihre virtuellen Kanäle, Facebook und Instagram, fortlaufend Videos und Beiträge. Schaulustige an heimischen Bildschirmen oder vernetzt unterwegs konnten so Sequenz für Sequenz der Großübung verfolgen.

Übrigens, Mainz ist kein Einzelfall. Übungen dieser Art initiieren die fünf rheinland-pfälzischen Polizeipräsidien im Jahreswechsel, neben der Landeshauptstadt sind das Koblenz, Trier, Ludwigshafen und Kaiserslautern. Damit sollen Abläufe ständig optimiert, »gewonnene Erkenntnisse in täglichen Einsatzplanungen einfließen«, teilten Behördenvertreter nach dem imaginären Kurzzeitausnahmezustand in der Gutenberg-Stadt mit. Also, ein bisschen »Jetzt-brennt-die-Hütte« kann so dramatisch nicht sein. Aber worum ging es noch mal? Stimmt, ein Killerkommando killt Killer – und das in einem Fußballstadion.

Oliver Rast ist jW-Redakteur im Ressort Wirtschaft, Arbeit, Soziales und Sportreporter.

Teil 1 der Serie »Staatsfeind Fan« erschein an dieser Stelle am 18. April 2024: Derby on Fire.

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