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11.01.2021 19:30 Uhr

Frische Luft

Die Rosa-Luxemburg-Konferenz bot in diesem Jahr besonders viel Internationales statt deutscher Nabelschau
Von Arnold Schölzel
Die Studiowand in der jW-Ladengalerie am Sonnabend: Ezé Wendtoin sendet aus Ouagadougou, Burkina Faso

Keine Ahnung, um wieviel Zentner sich die Organisatoren der Rosa-Luxemburg-Konferenz (RLK) 2021 am Sonnabend beim Abschalten des Livestreams um 20.15 Uhr erleichtert fühlten. Es müssen mehr gewesen sein als üblich. Für die gut 60köpfige jW-Belegschaft ist auch bei 33 unterstützenden Organisationen das Gewimmel der Saalkonferenzen kaum zu bewältigen, die elektronische Variante steigerte einiges noch: Der Ablauf musste funktionieren wie die Schweizer Bundesbahn, in der jW-Ladengalerie sollte ein Fernsehstudio professionell arbeiten, Direktschaltungen nach Kalifornien,Rom, Madrid, Winnipeg und anderswohin hatten pünktlich zu stehen, es gab reihenweise einzuspielende Videos etc. Das Ergebnis: Es hat nicht nur gut geklappt, sondern sehr gut – selbst die Zahl der eingeworbenen Abonnements reichte an die vergangener Jahre heran. Nach dem ultimativen zweiten Auftritt Ingo Höhmanns aus dem jW-Aktionsbüro glühten die Drähte. Der Beobachter am Bildschirm zu Hause zählte drei Bildwackler, der Liveblog mit Zusammenfassungen informierte zügig, die Abwesenheit von Pannen war fast erschreckend. Am Abend teilten die Konferenzmoderatoren, die Schauspielerin und Regisseurin Anja Panse und der stellvertretende jW-Chefredakteur Sebastian Carlens mit, dass die eigenen Messanlagen 12.200 eingeschaltete Geräte gezählt hatten. Unbekannt ist, wie viele in Lateinamerika zuschauten, wo der Fernsehsender Telesur die Konferenzbilder verbreitete. Dasselbe gilt für Nordamerika und die meisten Kanäle der europäischen jW-Partnermedien. Schlussfolgerung: Wenn die nächste RLK wieder in Sälen stattfindet, soll sie erneut live im Internet übertragen werden.

Das elektronische Format hatte einen Anteil daran, dass es am Sonnabend in den Referaten noch weniger als früher um deutsche Nabelschau ging und schon gar nicht um hiesigen medialen Mief – das galt in diesem Jahr auch für die Abschlussdiskussion: Thema war nicht das jüngste Zickzack deutscher Linker, sondern der globale gewerkschaftliche Kampf, so jW-Chefredakteur und Diskussionsleiter Stefan Huth, »gegen den bislang größten Pandemieprofiteur, Amazon« (siehe die Dokumentation der Runde auf den Seiten 12/13 in jW vom 11. Januar). Sehr speziell: Ein vor kurzem noch als Vizepräsident der Cloud-Tochtergesellschaft des US-Konzerns tätiger Manager, äußerte sich zur Vergesellschaftung von Konzernen.

Den Raubbau beenden

Der Tag begann mit Kunst, den Ausstellungen der Fortschrittlichen Arbeiterfotografen/R-mediabase (siehe jungewelt.de/fotoausstellung) und der Gruppe »Tendenzen«, letztere zum Thema »Sozialismus oder Barbarei«. Die Formulierung Rosa Luxemburgs war der rote Faden in den Beiträgen des Tages, z. B. im Referat des italienischen Philosophen Stefano Azzarà: In der Pandemie tauchen weltweit die Klassen wieder auf und stellen die »immanente Religiosität des Kapitalismus« (Walter Benjamin) in Frage. Die »Rationalitätsdefizite« des Westens werden virulent: im Hass auf den »barbarischen« Aufsteiger China und im »zynischen eugenischen Pandemiemanagement der angelsächsischen Länder«. Ähnlich auch die indisch-kanadische Wirtschaftswissenschaftlerin Radhika Desai: Der frühere Kalte Krieg hat den Kommunismus nicht besiegt, der jetzige könnte den Kapitalismus besiegen. Denn nach 100 Jahren versuchter Vorherrschaft des kriminell-spekulativen US-Finanzsystems stagnieren Wirtschaft und Produktivität, hat die dadurch bewirkte Deindustrialisierung des Westens den Aufstieg Chinas gefördert. Noch radikaler der US-Ökonom John Bellamy Foster: Kapitalismus schließt Ökologie aus, Ökologie und Sozialismus sind letztlich eins. Das ist im Grundkonzept von Marx enthalten, wie Foster am Beispiel des »Kapital« zeigte und folgerte: »Die Expropriateure der Natur müssen expropriiert werden.« Und schließlich der kubanische Publizist Enrique Ubieta Gómez: Entweder ändert die Menschheit ihr Verhältnis zur Natur oder die Natur »ändert« sie. Nur der Sozialismus kann ein rationelles Verhältnis zur Natur schaffen, wie Kuba zeigt. Dort ist in der Pandemie kein Krankenhaus zusammengebrochen, sondern das von Trump strangulierte Land entwickelt Impfstoffe.

»Rassenfaschismus«

Zwischen den Hauptreferaten bot die Konferenz in rascher Folge politische Gespräche, Kommentare und Musik wie gewohnt. Der Chefredakteur des Londoner Morning Star, Ben Chacko, kommentierte den Prozess gegen Julian Assange: Wer über Folter in US-Gefängnissen berichtet, an dem haben Menschenrechtskrieger kein Interesse. Die Chefredakteurin des Magazins für Gegenkultur Melodie und Rhythmus, Susann Witt-Stahl, kündigte das Thema des nächsten Heftes an: Irrationalismus und Wahn, die »Pandemie des Sozialdarwinismus«. Sie lud zur Feier des 100. Geburtstags von Erich Fried, dem 1988 verstorbenen antifaschistischen Dichter, ein: am 7./8. Mai im Berliner Kino »Babylon«. Beim SDAJ-Jugendforum diskutierten fünf Aktivistinnen und Aktivisten zum Teil kontrovers die Folgen von Krise und Pandemie für Jugendliche: Kommunale Treffs sind geschlossen, Betriebe bilden nicht mehr aus. Spontane Jugendbewegungen sind da, Linke sollten in ihnen orientierend wirken. Der Songwriter Ezé Wendtoin meldete sich aus Burkina Faso. Er sang u. a. »Sag nein!« von Konstantin Wecker. Der hatte das Lied gegen Neonazis aus dem Jahr 1993 in seinem Videobeitrag später auch im Programm. Peter Wittig und Margarete Steinhäuser sprachen live über die Geschichte ihrer Berliner Theatertruppe »Sidat« und ihre Inszenierung von Brechts »Tage der Commune«: Das Stück handele von revolutionärer Gewalt und von den Skrupeln bei deren Gebrauch, sei also gegen Gewalt. Skrupel aber haben Ausbeuter noch nie gehabt. Zum 150. Jahrestag der Commune soll es wieder Aufführungen geben.

Es folgen Beispiele für Ausbeutergewalt: Kamal Hamdan, Generalsekretär der KP Libanons, schilderte den wirtschaftlichen Zusammenbruch seines Landes und den Aufstand der Bevölkerung. Der US-Imperialismus verhindert aber von Syrien bis Jemen Stabilität. Dora Cheick Diarra, Sekretär der Partei SADI aus Mali, wo faktisch seit 2011 ein von außen geschürter Bürgerkrieg herrscht, berichtete von Friedensbemühungen seiner Partei. Frankreich hat aber andere Interessen. Donna Murch, Politikprofessorin in New Jersey, erläuterte die Geschichte des »Rassenfaschismus« in den USA. Trump ist kein Zufall, sondern wird davon getragen. Die weiße Mittelschicht steigt ab, ihre »Herrenvolkdemokratie« bröckelt, ihre Lebenserwartung sinkt massiv. Gleichzeitig entstehen Bewegungen wie »Black Lives ­Matter« mit fünf bis sechs Millionen Anhängern. Johanna Fernández, die Sprecherin des Verteidigungskomitees für Mumia Abu-Jamal, der schon 39 Jahre im US-Gefängnis sitzt, bekräftigte: Wer Linker ist, wird in den USA vom Staat umgebracht. Mumia erinnerte in seiner Audiobotschaft an die Kombination von Ultranationalismus und antiwissenschaftlichem Humbug, der Trumps Wähler mobilisierte, und gleichzeitiger Masseninhaftierung politischer Gegner.

Der indische Autor Vijay Prashad warnte vor einem »hybriden Krieg« zwischen den USA und China. Die Volksrepublik ist wissenschaftlich erfolgreich, in den USA verbreiten sich Aberglaube und antiwissenschaftliche Einstellungen. Hauptwaffe gegen die Unvernunft des Kapitalismus so Janoshi Rosas, Generalsekretärin der Kommunistischen Jugend Venezuelas, sind wissenschaftlicher Sozialismus und Solidarität. Miriam Näther (Cuba Sí) belegte das: Sie berichtete über die Kampagne »Unblock Cuba!«. Per Video sagte Fernando González Llort, Präsident des ICAP, des Kubanischen Instituts für Völkerfreundschaft und als einer der »Miami Five« jahrelang im US-Gefängnis, dass sich der Initiative 80 Organisationen in 24 Ländern angeschlossen haben. Selahattin Demirtas, den Erdogan 2016 in den türkischen Knast warf, schickte eine Mut machende Grußbotschaft: Die Ausbeuterordnung hat ihr »Mindesthaltbarkeitsdatum längst überschritten«. Und der Liedermacher David Rovics erläuterte vor der Abschlussdiskussion im Gespräch mit Susann Witt-Stahl, warum er der Überzeugung ist: Die Trump-Bewegung ähnelt dem italienischen und deutschen Faschismus des 20. Jahrhunderts. Die Hälfte von Polizei und Geheimdiensten, schätzte er, sind Anhänger weißer Vorherrschaft.

Ein Tag, vollgepackt mit Information, Aufklärung und politischer Kunst – es lohnt sich, nachzusehen und nachzulesen: Durchlüftung kontra pandemischen Mief.

Lesen Sie am Mittwoch, 27. Januar, in junge Welt das 16seitige jW-Spezial zur XXVI. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz.

Die Broschüre mit den Vorträgen, dem Podiumsgespräch sowie weiteren Beiträgen ist ab Ende März im Handel erhältlich.

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