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14.05.2021 19:30 Uhr

»Die Behörde ist ein Relikt aus dem Kalten Krieg«

Verfassungsschutz beobachtet junge Welt, weil sie die Klassenstruktur der bundesdeutschen Gesellschaft benennt. Ein Gespräch mit Andreas Kemper
Interview: Kristian Stemmler
Der Staat will dieser Zeitung aktiv den ökonomischen Nährboden entziehen (Berlin, 13.1.2019)

Die junge Welt wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Wie bewerten Sie, dass eine überregionale Zeitung vom Inlandsgeheimdienst überwacht wird?

Ich stehe dem Verfassungsschutz aufgrund seiner Geschichte, dem daraus folgenden Personal und vor allem wegen seiner Klassifikationsschemata sehr skeptisch gegenüber und damit auch dessen Überwachungstätigkeit.

In der Antwort auf eine Anfrage der Fraktion von Die Linke erklärte die Bundesregierung, diese Zeitung vertrete einen »revolutionären Marxismus«, der sich »gegen Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung« richte. Und weiter: »Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde.« Was sagen Sie dazu?

Die Formulierung »freiheitliche demokratische Grundordnung« irritiert mich immer wieder. Laut Artikel 20 Absatz 1 des Grungesetzes ist die Bundesrepublik Deutschland ein »demokratischer und sozialer Bundesstaat«. Es müsste also »demokratische und soziale Grundordnung« heißen. Eigentlich dürfte eine solche Grundordnung eine Klassengesellschaft nicht zulassen. Dennoch leben wir in einer. Und natürlich rechtfertigt der Privatbesitz von Produktionsmitteln eine soziologische Kategorisierung dieser Gesellschaft, vor allem, wenn viel dafür spricht, die Vermögenslosigkeit einer Hälfte der Bevölkerung mit der Marxschen These der Mehrwertabpressung zu erklären.

Kann die Menschenwürde allein dadurch verletzt werden, dass eine Gesellschaft in einer bestimmten Weise beschrieben wird?

Wenn man die Gesellschaft rassistisch beschreibt und einordnet, dann ja. Und wenn man sie – wie Thilo Sarrazin zum Beispiel – klassistisch beschreibt und einordnet, dann auch. Die Frage ist: Benutzt man Kategorien, um gesellschaftlich relevante Unterschiede abzuschaffen oder um sie biologistisch oder religiös zu verfestigen?

Und sind es nicht vielmehr Verletzungen der Würde, was Menschen tagtäglich an ihren Arbeitsplätzen erleben, sagen wir: an der Packstraße bei Amazon oder in einem Callcenter?

Ja, natürlich, diese Aufzählung lässt sich ohne Ende fortsetzen. Die Situation in Altenheimen, Kinderarmut, Wohnungs- und Obdachlosigkeit, die soziale Selektion nach der Grundschule.

Dem Verfassungsschutz wird immer wieder vorgeworfen, energisch gegen Linke vorzugehen, aber auf dem rechten Augen blind zu sein. Sehen Sie das auch so?

Es ist die Frage, was wir unter »rechts« verstehen. Oft werden völkisch-faschistische Bestrebungen dann doch noch irgendwann »beobachtet«. An der Stelle möchte ich anmerken, dass der Verfassungsschutz in Thüringen eine Analyse von mir zum dortigen AfD-Chef Björn Höcke plagiiert hat. Das deutet darauf hin, dass der sozialdemokratisch orientierte Vorsitzende der Landesbehörde seinem eigenen »Referat Rechtsextremismus« misstraut. Wahrscheinlich zu Recht. Hans-Hermann Hoppe, Demokratiefeind und intellektueller Vordenker des Mises-Instituts, das der Degussa Goldhandel GmbH nahesteht (mit der die AfD ihren zeitweiligen Goldhandel betrieb und die auch mit der Spendenaffäre der Partei verbunden ist, jW), sagte das ganz deutlich in einem Interview mit der – übrigens nicht vom Inlandsgeheimdienst beobachteten – Jungen Freiheit: Er werde nicht beobachtet, weil er gar nicht in das Klassifikationsschema passe. Und ich denke auch nicht, dass Markus Krall, Geschäftsführer von Degussa Goldhandel, trotz seiner öffentlich geäußerten Umsturzphantasien zur Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts beobachtet werden wird.

Was meinen Sie, worin die Motivation für Angriffe wie die auf junge Welt liegt? Soll es einer kritischen Gegenöffentlichkeit möglichst schwergemacht werden? Will man jW ein »Schmuddelimage« verpassen, damit sich Menschen von der Zeitung distanzieren oder gar nicht erst näher damit befassen?

Ich denke, dass es hier unterschiedliche Motivationen gibt. Letztlich erklärt sich diese Beobachtung aus der Existenz des Verfassungsschutzes selbst, der ein Relikt aus den Zeiten des Kalten Krieges ist.

Andreas Kemper ist ­Soziologe und Publizist