3 Monate jW-digital für 18 Euro
Gegründet 1947 Mittwoch, 31. Mai 2023, Nr. 124
Die junge Welt wird von 2709 GenossInnen herausgegeben
3 Monate jW-digital für 18 Euro 3 Monate jW-digital für 18 Euro
3 Monate jW-digital für 18 Euro

Leserbrief verfassen

Betr.: Artikel Unüberhörbar und rastlos

Artikel »Unüberhörbar und rastlos« einblenden / ausblenden

Unüberhörbar und rastlos

Marxist, Organisator, Experte. Zum Tod von Winfried Wolf

Am 22. Mai 2023 starb in Berlin Winfried Wolf. Er war Publizist, marxistischer Organisator, Bewegungsaktivist und der führende Verkehrsexperte der Linken. Geboren wurde er am 4. März 1949 in Horb am Neckar. Zu den akademischen Lehrern des promovierten Politologen gehörte Elmar Altvater. Sein politischer Mentor wurde Ernest Mandel. Unter dessen Einfluss ist er Mitglied und Funktionär der trotzkistischen Gruppe Internationale Marxisten (GIM) geworden. 1986 war er treibende Kraft bei einer Fusion mit der maoistischen KPD/ML zur Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP). Diese Entscheidung beruhte unter anderem auf der Annahme, dass eine ökonomische und politische Krise bevorstehe und deshalb eine neue revolutionäre Organisation geschaffen werden müsse. Die Umbrüche von 1989 und den folgenden Jahren machten eine Neuorientierung nötig. Der letztlich revolutionäre Impetus blieb lebenslang.

Zusammen mit Jutta Ditfurth, Thomas Ebermann und Rainer Trampert war Winfried Wolf seit 1988 an der Gründung einer übergreifenden »Radikalen Linken« beteiligt, die schließlich scheiterte. Später schloss er sich der PDS an, für die er 1994 bis 2002 dem Bundestag angehörte. Die trotzkistische Vierte Internationale erschien ihm nicht länger ein geeigneter politischer Rahmen, 2004 verließ er auch die PDS. 2011 kam es anlässlich des 50. Jahrestags des 13. August 1961 zu einem Zerwürfnis mit der jungen Welt, für die er bis dahin geschrieben hatte. Typisch für ihn war, dass solche Trennungen das Weiterbestehen von persönlichen und politischen Freundschaften nicht ausschlossen.

Winfried Wolfs Gegnerschaft zum sowjetischen Sozialismustyp hatte sich vor 1989 mit der Suche nach linker Opposition im RGW-Bereich verbunden. Er veröffentlichte damals drei Bände zur polnischen Solidarnosc. Der Glaube an die Massen und das Misstrauen gegen jede Art von Bürokratie gehörte auch hier, wo er enttäuscht wurde, zu seiner politischen Grundausstattung.

Als Wissenschaftler legte er 1986 ein bis heute anerkanntes Grundlagenwerk vor: »Eisenbahn und Autowahn. Personen- und Gütertransport auf Schiene und Straße. Geschichte, Bilanz, Perspektiven«. Jahrzehntelang sammelte Winfried Wolf einen Fundus von Kenntnissen, der ihn zum unüberhörbaren Verkehrspolitiker werden ließ: im Bundestag, als Gast der öffentlich-rechtlichen Medien, mit lokalen Gutachten, in rastloser Vortragstätigkeit, mit immer neuen Büchern. Er war Sprecher der Initiative »Bürgerbahn statt Börsenbahn«, die Gründungsmitglied des Bündnisses »Bahn für alle« wurde. »Stuttgart 21« war für ihn Inbegriff dessen, was zu verhindern war: Verdrängung der Schiene aus der Fläche, Vergrabung des Rests in megalomanischen Tunneln als Zubringer für Flughäfen und Metropolen.

Winfried Wolf bekämpfte den konzernfrommen Kurs der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und unterstützte die Gewerkschaft Deutscher Lokführer, GDL. Im Kampf gegen die Privatisierung der Bahn fand er Verbündete auch unter Konservativen. GDL-Chef und CDU-Mitglied Claus Weselsky gehörte ebenso zu seinen Partnern wie die SPD-Politiker Hermann Scheer und Peter Conradi.

Zugleich fand Wolf einen zweiten Atem für ein 2008 von ihm gegründetes nachgerade erlesenes Printprojekt: Lunapark 21. Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie, versehen mit einem liebevoll gestalteten Layout und mit besonderer Sorgfalt von ihm und einem qualifizierten kleinen Team redigiert.

Schon gezeichnet von der Krankheit, der er jetzt erlag, wurde er kurz vor seinem Tod noch einmal weithin sichtbar in Klaus Gietingers Film »Das trojanische Pferd – Stuttgart 21«. Dort tritt er als Kommentator der Skandale und Kämpfe um dieses Monstrum auf. Im April 2023 ist er zu einer letzten Reise aufgebrochen, um den Film zu zeigen. Im dunklen Kinosaal von Schüttelfrost gepackt, stand er auf, sobald das Licht anging, das Mikrofon in einer Hand, die andere locker in der Tasche, und sprach mit ruhiger Stimme. Zurück in Potsdam und Berlin, verstummte er für kurze Zeit und dann auf immer. Die Spuren, die er legte, werden, so ist zu hoffen, nicht verlorengehen.

Leserbriefe müssen redaktionell freigeschaltet werden, bevor sie auf jungewelt.de erscheinen. Bitte beachten Sie, dass wir die Leserbriefe Montags bis Freitags zwischen 10 und 18 Uhr betreuen, es kann also einige Stunden dauern, bis Ihr Leserbrief freigeschaltet wird.

Sie erklären sich damit einverstanden, dass wir dessen Inhalt ggfls. gekürzt in der gedruckten bzw. Online-Ausgabe der Tageszeitung junge Welt und in sog. sozialen Netzwerken wiedergeben können. Es besteht kein Anspruch auf Veröffentlichung. Die junge Welt behält sich Kürzung Ihres Leserbriefs vor.

Bitte beachten Sie unsere Netiquette (einblenden / ausblenden)

Netiquette

Liebe Leserin, lieber Leser,

bitte beachten Sie die folgenden Hinweise für Ihre Beiträge zur Debatte.

Ihr Leserbrief sollte sich auf das Thema des Artikels beziehen. Veröffentlicht wird Ihr Beitrag unter Angabe Ihres Namens und Ihres Wohnortes. Nachname und Wohnort können abgekürzt werden. Bitte denken Sie daran, dass Ihr Text auch nach Jahren noch im Internet auffindbar sein wird. Wir behalten uns eine redaktionelle Prüfung vor, ein Anspruch auf Veröffentlichung besteht nicht.

Für uns und unsere Leser sind Ihre eigenen Argumente interessant. Texte anderer sollen hier nicht verwendet werden. Bitte bleiben Sie auch im Meinungsstreit höflich. Schmähungen oder Schimpfwörter, aggressive oder vulgäre Sprache haben hier keinen Platz. Denken Sie daran: »Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge.« (Bertolt Brecht)

Äußerungen, die als diskriminierend, diffamierend oder rassistisch aufgefasst werden können, werden nicht toleriert. Hinweise auf kommerzielle Angebote jeder Art sind ausdrücklich nicht gewünscht. Bitte achten Sie auf die Orthografie und bitte nicht »schreien«: Beiträge, die in Großbuchstaben abgefasst wurden, werden von uns gelöscht.

Die Moderation bedeutet für unsere Redaktion einen zusätzlichen Aufwand: Leserbriefe zu älteren Artikeln sind deshalb nur befristet möglich. Außerdem kann es etwas Zeit in Anspruch nehmen, bis die Redaktion Ihren Leserbrief bearbeiten kann, dafür bitten wir um Verständnis. Orthografische Änderungen durch die Moderation machen wir nicht kenntlich, Streichungen mit eckigen Klammern.

Viel Freude am Debattieren!