07.05.2024 / Feuilleton / Seite 11

Schwieriges Handwerk

Volker Braun wird 85 und besichtigt leicht melancholisch die Zukunft

Ronald Weber

»Schwer hat er neu sein, der Kleine. Alle abscheulichen Stücke / Schrieb Heiner Müller bereits, alle erhabenen ich«, dichtete einst Peter Hacks über Volker Braun, den jüngeren Lyriker und Dramatiker damit als Epigonen kennzeichnend. Das war gemein, bezüglich der Dramatik aber auch treffend, denn die Widersprüche der DDR, denen sich Braun ab den 1960er Jahren, philosophisch beschlagen, zuwandte, hatten Hacks und Müller, die beiden Antagonisten des DDR-Dramas, tatsächlich umfassend ausgelotet. Wo aber Hacks nach der Revolution, die eine Konterrevolution war, nur noch von Restauration träumte und Müller den als Großmetapher bei Benjamin geborgten Engel der Geschichte zum gesichtslosen, unbekannten Wesen erklärte, hielt Braun an der Utopie fest. Im Grunde genommen wurde er erst jetzt, als der Kapitalismus mit D-Mark und Arbeitslosigkeit vor den Toren stand, den Sozialismus zu schleifen, zu einer unverwechselbaren Stimme, die er – blickt man in Brauns Gedichte – natürlich auch vorher schon gewesen war.

Mit dem Gedicht »Das Eigentum« lieferte Braun den bis heute gültigen Kommentar zum deutschen Sozialismus, inklusive Reflexion der zutiefst widersprüchlichen Rolle der künstlerischen Opposition bei den 89er Ereignissen. Das in Moll gehaltene Gedicht fasst die Utopie, die die DDR nicht war und doch sein sollte, am Ende in die Frage: »Wann sag ich wieder mein und meine alle«? Seitdem sucht Braun nach dem Nichtort. In der meisterhaften Erzählung »Die hellen Haufen« (2011) fixiert er ihn in Thüringen im Rahmen einer historisch-utopischen Überblendung zwischen dem Bauernkrieg und dem Widerstand der Kalikumpel in Bischofferode.

Aber Braun verharrt nicht im Blick zurück (obschon er Hartmut Langes bösem Rat zum 60. Geburtstag, doch der Vergangenheit zu verzeihen und abzuschließen, nicht entsprochen hat). Betrachtet man Brauns Schaffen nach dem Ende der DDR, so lässt sich vielmehr sagen, dass er – im Gegensatz zu manch anderen DDR-Autoren – in der Gegenwart angekommen ist. Dass er diese zutiefst verabscheut, spricht vielhundertfach aus seinen Gedichten und anderen Texten, die die Möglichkeiten einer von Ausbeutung befreiten Arbeit durchdenken und zum Widerstand gegen die herrschende Ordnung aufrufen. Dabei erweist er sich als der Sorte Marxisten zugehörig, die, an Hegel geschult, die Wirklichkeit als Bündel von bewegenden und bewegten Widersprüchen ansehen.

Um deren mögliche Aufhebung geht es auch in Brauns jüngster, pünktlich zum 85. Geburtstag erschienenen Veröffentlichung »Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben«. Sie besteht aus drei Texten, drei »Versuchen«, wie es in Anlehnung an Brecht heißt: der erste poetologisch, der zweite politisch, der dritte biographisch.

In dem Text »WACHTRAUM« aus dem Band »Große Fuge« (2021) schrieb Braun: »Nur ein Wachtraum stellt sich ein, der Traum von einer Sache, die nicht in der Welt ist, oder einer Welt, die nicht meine Sache ist.« Dazwischen, in diesem altbekannten Widerspruch von Utopie und (katastrophenkapitalistischer) Realität, bewegt sich die kommunistische Poesie, die das Gewesene und das Kommende zugleich in den Blick nehmen muss. »Schwieriges Handwerk: das Hoffen!« Auch das Dichten. Im »Versuch, mich auf einer Landmasse zu bewegen«, fragt Braun: Wie wäre eine Literatur beschaffen, die den entfesselten Kapitalismus der Gegenwart zu packen bekommt und zugleich eine Alternative mitdenkt? Wo sind ihre gesellschaftlichen Haltepunkte? Welche Metaphern eignen sich für sie?

Brauns Text hat einen klaren Fokus und viele Gewährsleute. Der Fokus heißt: China, ein »gewaltiger Spuk« und »ein (riesiger) Rest« vom »versunknen Kommunismus«. Ein Land ohne koloniale Vergangenheit und der einzig interessante »Gesellschaftsversuch«. Hinsichtlich der Mischung von Markt und Planung, von Kapitalismus und Sozialismus »ein Weltexperiment«, wobei Braun bewusst ist, dass das Land angesichts all seiner Widersprüche die »Implosion« vor sich hat. Die Gewährsleute heißen, wenig verwunderlich, Bloch, Brecht, Müller, aber eben auch Sergio Raimondi, Sergej Sawaljow und Ann Cotten. Mit dem Brasilianer schmeckt Braun der nautischen Poesie, mit dem Russen dem Schrecken nach. Mit Cotten vergewissert er sich des Widerstands. Natürlich fehlt auch der große Lehrer der DDR-Lyrik, Georg Maurer, nicht.

Um einen anderen »Lehrer« Brauns geht es im »Versuch, mich mit den Füßen am Boden zu halten«: Wolfgang Fritz Haug, dem und dessen Zeitschrift Das Argument sich Braun seit langem verbunden fühlt. Tief verneigt er sich vor dem von Haug initiierten Projekt des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus. Mit Haug denkt Braun über eine vollständig globalisierte Welt nach dem Nationalismus (»das schlimmste Übel der Völker«) nach. Mit Haug beschreibt er die mit dem Nonsensbegriff belegte »Klimakrise« als »Kapitalismuskrise«; als hätte sich das Klima nicht immer schon gewandelt; als hätte die Natur keinen Bestand, nachdem der Mensch die ihm gemäße Lebenssphäre zerstört hat und von der Erde verschwunden ist. Als Konterpart der alten Männer, die über Praxisphilosophie sinnieren, erschafft Braun eine junge Frau, Sophie, Aktivistin der »Letzten Generation«. Es wäre zu viel gesagt, dass auf ihr die Hoffnung Brauns liegt, seine Sympathie aber hat sie.

Der letzte »Fortwährende Versuch, mit Gewalten zu leben« enthält Brauns Leben in a nutshell. Beginnend mit dem Aufwachsen in Dresden und der »Urszene«, der zerstörten Stadt, arbeitet sich Braun durch seine Biographie und montiert eigene Texte: Schwarze Pumpe (»Die Kipper«), das Philosophiestudium in Leipzig, die Akademieveranstaltung 1961, wo Stephan Hermlin Gedichte las, ein Abend, der nicht nur Braun berühmt machte. Immer wieder: die Repression, der Ärger mit den Oberen, die Gewalt – »vom ersten Tag an«, so dass Braun sich fragt, was eigentlich vom Handeln aus freien Stücken übrigbleibt, wenn man Bilanz zieht. Zum Schluss: der Untergang 89, »die verunfallte Revolution«, das Ende der DDR und die Trauer um das, was man (auch) gehasst hat: »Was für ein weites Grab die Liebe ist.«

Der Text schließt mit einer kleinen dramatischen Szene à la Heiner Müller: Schloss Schönhausen, Park. Auftritt Wilhelm Pieck, erster Präsident der DDR, und Elisabeth Christine, Gemahlin Friedrichs II. »Es ist wieder Krieg. – Um Schlesien?« Voller Gram antwortet Pieck: »Es ist der Russe. Und der Ami nämlich.« Und folgert: »Die NATO in Neugotland, das geht garnicht.« Am Ende verschwinden beide im Park, ein »Büchlein« studierend. Es ist die »Ode an die Ozeane«, mit der der erste »Versuch« einsetzt. Ob sie sich schreiben lässt?

Volker Braun: Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024, 100 Seiten, 20 Euro

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