27.04.2024 / Ausland / Seite 6

37 Millionen Tonnen Schutt

Gaza: Immer mehr Leichenfunde aus Massengräbern. Trümmerbeseitigung auf 14 Jahre geschätzt

Ina Sembdner

Den achten Tag in Folge sind am Freitag rund um das Nasser-Krankenhaus in Khan Junis Leichname aus insgesamt drei Massengräbern geborgen worden. Der Zivilschutz im Gazastreifen hatte sie am Donnerstag auf 392 beziffert, identifiziert worden seien bislang lediglich 42 Prozent der Opfer. Die Beamten erklärten weiter, dass es Hinweise dafür gebe, »dass einige von ihnen vor Ort hingerichtet oder gefoltert wurden – und dass einige von ihnen lebendig begraben wurden«. Sie appellierten an die internationalen Institutionen, eine unabhängige Untersuchungskommission zu bilden. Man sei bereit, »in jedem unparteiischen oder internationalen Menschenrechtsausschuss mitzuarbeiten, um Verbrechen gegen die Menschheit zu beweisen«. Tel Aviv hatte am Mittwoch davon gesprochen, dass »jeder Versuch, Israel zu beschuldigen, Zivilisten in Massengräbern zu begraben, kategorisch falsch ist«. Aber auch vom engsten Verbündeten USA kamen scharfe Töne. So verlangte der Nationale Sicherheitsberater Jacob Sullivan gleichentags »Antworten«. Seine Regierung wolle »die genauen Umstände wissen, und wir wollen, dass dies gründlich und transparent untersucht wird« – eine Forderung, der Israel bislang in keinem Fall nachgekommen ist.

Auch nicht bei der »versehentlichen« Tötung von sieben internationalen Mitarbeitern der Hilfsorganisation World Central Kitchen (WCK) Anfang des Monats. Am Donnerstag traf es einen Beschäftigten der belgischen Agentur für Entwicklungszusammenarbeit. Er wurde bei einem Luftangriff in Rafah ebenso wie sein siebenjähriger Sohn, sein Vater und ein Bruder getötet, wie die belgische Entwicklungsministerin Caroline Gennez mitteilte. Israels Armee erklärte am Abend standardisiert, der Vorfall werde geprüft, man gehe »im Einklang mit dem Völkerrecht gegen die Hamas und die Terrororganisationen im Gazastreifen vor«. Gennez und die Agentur verurteilten den Angriff »auf unschuldige Zivilisten« auf das Schärfste. Jan Egeland von der Norwegischen Flüchtlingshilfe (NRC) forderte am Freitag gegenüber Al-Dschasira, dass es endlich ein »wirkliches Kommunikationszentrum« benötige samt einer »Kommunikation, bei der sie uns aktiv sagen: ›Ja, diese (Route) ist sicher‹«. Im Gazastreifen werde »der Weltrekord an getöteten Kindern, Frauen – sie sind alle unschuldig –, an getöteten Helfern, Krankenschwestern, Ärzten, Lehrern« gehalten.

Aber nicht nur die mittlerweile über 34.000 Getöteten und mehr als 76.000 Verletzten brechen alle »Rekorde«. So würde die Beseitigung aller Trümmer und Blindgänger nach einem Ende des Krieges nach Einschätzung des UN-Minenräumdienstes (­UNMAS) etwa 14 Jahre dauern. In dem dicht besiedelten Gebiet gebe es bislang schätzungsweise 37 Millionen Tonnen Schutt, sagte UNMAS-Vertreter Pehr Lodhammar am Freitag in Genf. »Wir wissen, dass typischerweise mindestens zehn Prozent der am Boden eingesetzten Munition versagt und nicht funktioniert«, sagte Lodhammar. »Wir sprechen von 14 Jahren Arbeit mit 100 Lkw.«

Ein Ende des Krieges ist jedoch nicht absehbar: Bei den Verhandlungen zwischen der Hamas und Israel geht es nach dem Willen Tel Avivs maximal um eine »Waffenruhe«. Israelische Medien berichteten am Donnerstag abend, man sei willens, von der ursprünglichen Forderung nach Freilassung von 40 lebenden Geiseln als Gegenleistung für eine Waffenruhe abzurücken. Demnach akzeptiere man in einer ersten Phase die Hälfte – Frauen, Männer und schwer Erkrankte. Am Freitag waren Gespräche dazu in Ägypten geplant. Israel war bis vor einigen Wochen davon ausgegangen, dass knapp 100 der rund 130 in Gaza verbliebenen Geiseln noch am Leben sind. Zuletzt hatte jedoch ein gefangener US-Israeli in einem von der Hamas veröffentlichten Video von 70 durch das Bombardement getöteten Geiseln berichtet.

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