24.04.2024 / Feuilleton / Seite 11

Zähneputzen mit Kundi

Das Deutsche Hygiene-Museum Dresden und seine DDR-Geschichte

Martin Küpper

Um die Jahrtausendwende unterbreitete der Soziologe Wolfgang Engler den Vorschlag, die DDR als »arbeiterliche Gesellschaft« zu charakterisieren. Sie war keine bürgerliche und auch keine reine Industriegesellschaft. Bürgerliche Gesellschaften brauchen eine mustergültige Proletarisierung, die lag aber nicht vor. Industrielle Arbeitsformen können sowohl unter sozialistischer als auch unter kapitalistischer Ägide stattfinden, daher tauge der Begriff nicht. Die DDR bildete vielmehr eine Arbeitsgesellschaft eigener Art, »eine Gesellschaft, in der alle arbeiten oder zu arbeiten meinen und die Arbeit jedem einzelnen gehört«, was durchaus zum Nachteil all jener gereichte, die nicht arbeiteten. Freilich dominierte die Arbeiterschaft in der DDR, und wenn schon nicht in politischer, so doch in sozialer Hinsicht. Das umfasste nicht nur die Sitten, Kultur und Meinungen, sondern auch den Konsum, der sich an den leiblichen Bedürfnissen der männlichen Arbeiterschaft orientierte. Konkret hieß das mitunter: nahrhaft, hochprozentig und nikotinlastig.

Die Institution, die in der DDR die Bevölkerung darüber aufklärte, dass zu viele Kalorien, zuviel Alkohol und zuviel Tabak die Arbeitskraft schädigen, war das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden. Seit Anfang März widmet sich dieses in der Sonderausstellung »VEB Museum« der eigenen Geschichte in der DDR und den unmittelbaren Nachwendejahren. Der Titel ist gut gewählt, denn das Museum war zwar kein VEB im Sinne der Rechtsform, funktionierte aber wie ein Betrieb in einer arbeiterlichen Gesellschaft. Es war nicht nur ein Ausstellungsort, hier wurden in Ateliers und Werkstätten anatomische Modelle und andere Lehrmaterialien für die ganze Welt produziert und ein eigenes Veranstaltungsprogramm mit den Mitarbeitern und für sie aufgelegt, das von Faschingsfeiern bis zu Diskussionsabenden reichte. Anhand des Museumsbetriebs kann also modellhaft gezeigt werden, wie die Vergesellschaftung der Individuen über die Betriebe erfolgte.

In vier Ausstellungsabteilungen, die mit »Netzwerke«, »Macht«, »Produktion« und »Klubhaus« überschrieben sind und von einem Epilog abgeschlossen werden, können sich die Besucher über die Funktionsweise des Museums in der DDR informieren. Darüber hinaus wurden Perspektiven von Dresdnern aus migrantischen Communities und Kulturschaffenden eingebaut. Zu sehen ist jedenfalls eine Mischung aus Originalobjekten, Fotos, Kunstwerken, Fernsehspots, Zeitzeugeninterviews und kurzen Texten. Sie vermitteln in 16 Räumen ein buntscheckiges Bild. Es gibt neben den berühmten gläsernen Körpern und dem populären Maskottchen Kundi, das vielen Kindern beim Zähneputzen half, auch anspruchsvoll gestaltete Plakate. So steht auf einem, dass jede Erkältung vermeidbar sei, wenn man achtsam ist. Das Museum orientierte sich in seinen Kampagnen immer an aktuellen Problemen: dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, Berufskrankheiten und globalpolitischen Szenarien wie einem Atomkrieg. Auch für die Entwicklung von Materialien für Sexualaufklärung war das Museum verantwortlich. Allein für die Exponate und das Ausstellungsdesign, das jeden behutsam durch die Räume leitet, lohnt sich der Besuch.

Ihre stärkste und schwächste Seite zeigt die Ausstellung dort, wo der seltene Blick hinter die Kulissen gewagt wird, etwa bei der eigenen Schlosserei und der Trafostation. Wenn die Mitarbeiter der Haustechnik sich erinnern, mit wieviel Elan, Einfallsreichtum und Fürsorge der Betrieb mit im Grunde unzureichenden materiellen Mitteln aufrechterhalten wurde, wird wie unter einem Brennglas das arbeiterliche Bewusstsein deutlich sichtbar. Leider leitet der viel zu kurze Wandtext ohne weitere Erläuterung daraus eine »erhebliche Machtposition jenseits des offiziellen Hierarchiegfüges« ab. Ebenso dunkel erscheint die sich angeblich andeutende »Umkehrung der Macht«, wenn die Arbeiter im Gaskombinat »Schwarze Pumpe« sich »Schlossherren« nannten. Da sich die Ausstellung sowohl an Wissende wie Noch-nicht-Wissende richtet, müsste hier nachgeschärft werden, indem die Behauptung belegt wird, wem gegenüber und inwiefern sich Machtgefälle änderten, weil die Arbeiter meinten, mit Eifer und Freude bei der Sache gewesen zu sein. Das Narrativ steht nämlich in erheblicher Spannung zu den gezeigten Erinnerungen. Da wird vom Standesdünkel der Gewerke berichtet, aber auch von der Wertschätzung untereinander sowie durch den Staat und die SED. Letzteres war in dem Moment weg, als die Arbeiter nicht mehr Besitzer ihrer Arbeit, sondern dem proletarischen Überlebenskampf ausgesetzt waren. Auch das wird schonungslos gezeigt. Im Falle des Museums wurden 240 der 300 Mitarbeiter entlassen, die Produktionssparte wurde aufgelöst und weitere Abteilungen geschlossen. Mit der Abwicklung des alten und der Gründung eines neuen Museums im gleichen Hause war die Rückorientierung an die alten Traditionen der Gründungszeit und der Weimarer Republik verbunden. Neue wie alte Mitarbeiter legten von da an den Schwerpunkt auf den Ausstellungsbereich, was den Grundstein für das bis heute anhaltende Renommee des Museums legte – und durch die Ausstellung über die eigene Geschichte untermauert wird.

»VEB Museum – Das Deutsche Hygiene-Museum in der DDR«, Deutsches Hygiene-Museum, Dresden, bis 17. November 2024

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