19.04.2024 / Titel / Seite 1

Kranke Babys, süßer Profit

Nestlé soll Babynahrung in armen Ländern mit Zucker versetzen. Organisation wirft Konzern aggressives Marketing und Gesundheitsgefährdung vor

Gerrit Hoekman

Der Schweizer Nahrungsmittelgigant Nestlé versetzt seine Säuglingsmilch mit Zucker und Honig, wenn sie für Länder des Globalen Südens bestimmt ist. Das geht aus einer Recherche der Zürcher NGO Public Eye und des Internationalen Aktionsnetzwerks für Kindernahrung (IBFAN) hervor, die anlässlich der Generalversammlung der Nestlé-Aktionäre am Donnerstag veröffentlicht wurde. Die beiden Organisationen hatten Proben von Babynahrung, die Nestlé in Asien, Afrika und Südamerika verkauft, zur Untersuchung in ein belgisches Labor geschickt. Das Ergebnis: Der weltgrößte Lebensmittelhersteller ignoriert offenbar die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen (WHO) zur Prävention von Adipositas und anderen Krankheiten.

Insgesamt wurden knapp 150 Produkte getestet, die der Lebensmittelriese in Ländern mit niedrigem und mittlerem Pro-Kopf-Einkommen vermarktet. Fast alle enthielten Zuckerzusatz, im Schnitt vier Gramm pro Portion, was »etwa einem Zuckerwürfel« entspricht. Im Folgemilchpulver für Säuglinge ab einem Jahr mit dem Markennamen »Nido« wurden beispielsweise in Panama 5,3 Gramm gefunden. Im Milchbrei »Cerelac« für Säuglinge ab sechs Monaten waren es auf den Philippinen sogar 7,3 Gramm. Beide Marken sind in den unterentwickelt gehaltenen Ländern sehr beliebt. »Nestlé macht Babys und Kleinkinder in einkommensärmeren Ländern zuckersüchtig«, lautet daher das Fazit des Berichts.

Produkte für Kinder unter drei Jahren, die auf dem europäischen Markt verkauft werden, enthalten dagegen keinen Zuckerzusatz. »Nestlé muss dieser gefährlichen Doppelmoral ein Ende setzen und den Zusatz von Zucker in allen Produkten für Kinder unter drei Jahren in allen Teilen der Welt einstellen«, forderte Laurent Gaberell, Experte für Landwirtschaft und Ernährung bei Public Eye.

Nestlé kontrolliert gut 20 Prozent des Marktes für Kleinkindernahrung, der auf fast 70 Milliarden US-Dollar geschätzt wird. Mit einem weltweiten Umsatz von mehr als 2,5 Milliarden US-Dollar gehörten »Cerelac« und »Nido« im Jahr 2022 zu den meistverkauften Marken des Unternehmens in Ländern mit niedrigem und mittlerem Pro-Kopf-Einkommen. »In seinen Hauptmärkten in Afrika, Asien und Lateinamerika bewirbt Nestlé diese Produkte aggressiv als wichtig für die gesunde Entwicklung von Kindern«, stellen Public Eye und IBFAN fest. Die Recherchen zeigen zudem, dass der Schweizer Konzern auch vor irreführendem Marketing nicht zurückschreckt. So setze er »gezielt Gesundheitsfachleute und Influencer*innen ein, um das Vertrauen der Eltern in seine süßen Produkte zu gewinnen«. Eine anlässlich der Nestlé-Hauptversammlung gestartete Petition fordert den Konzern nun auf, Kleinkinder nicht länger auf den Geschmack zuckerhaltiger Produkte zu bringen.

Bereits vor rund 50 Jahren sorgte eine britische Studie mit dem Titel »Nestlé tötet Babys« weltweit für Aufsehen. Der Vorwurf schon damals: Der Schweizer Konzern verleite Eltern in den Ländern des globalen Südens durch aggressive Werbung dazu, Säuglinge mit Milchpulver statt mit Muttermilch zu ernähren. Tausende Babys sollen seinerzeit an Durchfall und anderen Krankheiten gestorben sein, weil die Eltern unter anderem verschmutztes Wasser zum Anrühren des Pulvers benutzten. Dieses Risiko soll Nestlé damals verschwiegen haben.

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