17.04.2024 / Feuilleton / Seite 14

Rotlicht: Algorithmus

Barbara Eder

Im Sprechen über Technik dominiert bislang die Vorstellung von einer autonom agierenden Maschinenintelligenz. Doch weit gefehlt: Die vornehmlich zu Marketingzwecken bemühte Rede schreibt Anwendungen aus dem Bereich des maschinellen Lernens, schreibt Robotern und Fertigungsstraßen damit gleichermaßen Fähigkeiten zu, die bislang nur Menschen und Tieren vorbehalten waren. Mit Blick auf die Vorbereitung eines neuen Geschäftsfeldes ergibt die Anthropomorphisierung des Anorganischen indes Sinn – Fetische kompensieren seit jeher den melancholiebedingten Verlust eines immer schon abwesenden Objekts; die Lücke, die es hinterließ, kann durch Konsumgüter, Partialobjekte oder andere Größen aus dem Reich der Waren aufgefüllt werden – das Smartphone in der Hosentasche zählt schon jetzt zu den engsten Vertrauten, und die sprachverarbeitende »Intelligenz« aus der Dose ist, trotz semantischem Nichtverstehen, in der Mimikry menschlicher Kommunikation nicht ganz unbegabt.

Was als »Geist aus der Maschine« vergötzt und vergöttert wird, ist realiter nicht mehr als ein »Shell Ghost«. Im Bereich des Hacking meint dies eine Technik, die ausführbaren Quellcode vom Anfang bis zum Ende eines Prozesses unsichtbar macht. Ähnlich verhält es sich mit Algorithmen, definiert als Abfolge von Rechenanweisungen, die nach einer endlichen Anzahl an Ausführungen terminieren: Man sieht sie nicht, hört sie nicht und erfährt nur bedingt von ihrer Struktur (Closed Source). Dabei kann es sich um eine Kombination von Schritten zum Tanzen eines Walzers handeln wie um Instruktionen für die Zubereitung von Linsencurry. Computer können derartige Anweisungen jedoch nur dann verarbeiten, wenn sie in maschinenlesbarer Form codiert sind; demnach muss die für einen Algorithmus charakteristische Abfolge an distinkten Anweisungen in einer bestimmten Sprache formuliert werden.

Ein mathematisch formalisierbarer Algorithmus kann eine Lösung für eine bestimmte Gruppe von Problemen bieten – vorausgesetzt, dass das Verfahren genau definiert ist. Dafür ist Datenmaterial nötig – so etwa eine Liste mit numerischen Werten. Ein Programm mit Bubblesort-Algorithmus gibt etwa eine endliche Anzahl numerischer Werte in einer bestimmten Anordnung aus. Eine Liste von Zahlen wird so zu einer nach bestimmten Kriterien sortierten Liste numerischer Werte: (9, 4, 1, 5, 3) –› (1, 3, 4, 5, 9). In diesem Sinne operiert ein Algorithmus deterministisch, seine Repräsentation variiert je nach Programmiersprache. Jenseits aller semantischen Finessen besteht ein Programm aus elementaren Schritten, bedingten Anweisungen und wiederholbaren Abfolgen – und ist somit nicht mehr als eine strukturierte Variation des Immergleichen.

Dies alles ist keineswegs undurchschaubar. In Konfrontation von Menschen mit ihren technischen Errungenschaften tritt bis heute dennoch das auf, was Günther Anders »prometheische Scham« nannte. In diesen Momenten sehen Menschen sich angesichts der Perfektion ihrer technischen Objekte als Mängelwesen – und sind mit dem Riss im eigenen Selbst konfrontiert. »Gelobt sei Gott, unser Herr und Beschützer«, hieß es, gemeint war ähnliches, bereits in Robert von Chesters Übersetzung von Al-Chwarizmis zweiter Abhandlung über den Gebrauch der indischen Zahlen zu Beginn des zwölften Jahrhunderts; vorangestellt war dieser Lobpreisung ein Satz, der im Zuge eines fehlgeleiteten Übersetzungstransfers aus dem Eigennamen »Algoritmi« den Begriff »Algorithmus« machte. Bis heute unterliegt dieser Begriff zahlreichen Mystifikationen – Prometheus hat sich noch lange nicht aus seinem selbstgebauten Schaltkreis befreit. Er ist nicht der autarke Schöpfer voller Einfallsreichtum und Tatendrang, der den Göttern das Feuer stahl und zur Strafe dafür an einen Felsen gekettet wurde. Seine Freiheit von ihren Fesseln fürchtet er immer noch mehr als den Adler, der täglich von seiner Leber aß.

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