10.04.2024 / Ausland / Seite 6

Drohneneinschlag in AKW

»Nuklearterror«: Russland beruft Dringlichkeitssitzung der Internationalen Atomenergiebehörde ein

Reinhard Lauterbach

Russland hat der Ukraine vorgeworfen, zum »atomaren Terrorismus« übergegangen zu sein. Die Vorwürfe beziehen sich auf drei Drohneneinschläge in das Gebäude des Reaktors Nummer sechs im seit 2022 russisch besetzten Atomkraftwerk (AKW) Saporischschja. Die Tatsache der Einschläge wurde vom Generalsekretär der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, bestätigt. Über die Herkunft der Drohnen äußerte sich Grossi nicht. Die Ukraine wies russische Vorwürfe zurück, für den Angriff verantwortlich zu sein, und beschuldigte Russland seinerseits einer Provokation. Moskau berief eine Dringlichkeitssitzung der IAEA über den Vorfall ein und will das Ereignis auch im Weltsicherheitsrat zur Sprache bringen.

Einzelheiten des Angriffs sind aus der Ferne schwer einzuschätzen, zumal Drohnen nicht zwangsläufig auf direkten Wegen fliegen. Für die Möglichkeit einer Provokation von einer der beiden Seiten spricht insbesondere der Umstand, dass Drohnen nicht in der Lage gewesen wären, das aus einem Meter dicken Betonwänden bestehende Reaktorgebäude zu durchschlagen. Im Innern sind die Reaktoren noch mit einem zweiten Schutzmantel aus 20 Zentimeter starkem Stahl umbaut. Ein nuklearer Schadensfall drohte also vermutlich ohnehin nicht, zumal das AKW inzwischen abgeschaltet ist.

Unterdessen setzte Russland seine Angriffe auf Ziele der ukrainischen konventionellen Energiewirtschaft in mehreren Teilen des Landes fort. Meldungen über Einschläge russischer Drohnen gab es in den Regionen Dnipropetrowsk, Saporischschja, Winnizja und Lwiw. In der Stadt Swjagel im Bezirk Schitomir wurde offenbar ein großes Öllager durch einen russischen Angriff in Brand gesetzt. Die örtlichen Behörden schlossen die Schulen und forderten die Bevölkerung auf, Türen und Fenster geschlossen zu halten.

Die ukrainische Militärführung rief die Bevölkerung des Landes erneut auf, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden. Der Kommandeur der ukrainischen Landstreitkräfte, General Alexander Maljuk, sagte im Fernsehen, es werde niemandem gelingen, diesen Krieg auszusitzen. Der von Präsident Wolodimir Selenskij ins Parlament eingebrachte Entwurf eines verschärften Mobilisierungsgesetzes sieht erstmals vor, auch alle Frauen zwischen 18 und 60 der Wehrerfassung zu unterwerfen. Unterdessen wurde durch Recherchen ukrainischer Medien bekannt, dass insbesondere das journalistische Personal der regierungstreuen Fernsehsender auf Dauer von der Einberufung befreit sei. Das Portal strana.news berichtete am Montag, dass die Perspektive, dem Kriegsdienst zu entgehen, inzwischen zu einem wesentlichen Element der Personalgewinnung der Sender geworden sei. Die Gehälter seien es jedenfalls nicht. Sie würden teilweise seit Wochen nicht mehr ausgezahlt, weil dem Staat das Geld fehle.

Auf der politischen Ebene wächst der Druck aus dem kollektiven Westen auf Selenskij, Kompromisslinien für eine Beendigung der Kämpfe vorzubereiten. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte am Sonntag im britischen Sender BBC, alle Kriege endeten irgendwann am Verhandlungstisch. Die Ukraine müsse sich überlegen, zu welchen insbesondere territorialen Zugeständnissen sie bereit wäre. Andernfalls werde Russland weiter vordringen. Es war die bisher deutlichste Distanzierung eines westlichen Spitzenpolitikers von der ukrainischen Siegesrhetorik. Auch Präsident Selenskij selbst schließt inzwischen die Möglichkeit einer militärischen Niederlage der Ukraine nicht mehr aus. Sie sei möglich, wenn der Westen nicht seine Materiallieferungen wesentlich erhöhe, sagte er am Sonntag in seiner abendlichen Videoansprache. Verhandlungen mit Russland hat die Ukraine sich selbst gesetzlich verboten, solange in Moskau Wladimir Putin an der Macht ist.

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