08.04.2024 / Politisches Buch / Seite 15

Einfluss und Kontrolle

NATO-Mythen durchlöchert: Sevim Dagdelen hat eine Streitschrift zu Geschichte und Gegenwart des Militärpaktes geschrieben

Arnold Schölzel

Die NATO wurde am 4. April 75 Jahre alt. Und pünktlich zum Jubiläum erscheint an diesem Montag Sevim Dagdelens »Abrechnung mit dem Wertebündnis«. Der Titel besagt: Hier wird, wie von der Autorin gewohnt, temperamentvoll und mit Überzeugungskraft gestritten, entlarvt und gefochten – zumeist auf leichte und präzise Weise mit dem Florett. Das Propagandabild, das die Allianz von sich verbreitet, ist am Ende der Lektüre durchlöchert. Zugleich gilt aber: Hier schreibt eine erfahrene Außenpolitikerin, die ihren Gegenstand aus leider oft nächster Nähe kennt, ihn mit Genauigkeit und klar strukturiert erfasst. Dagdelen ist seit 2005 Bundestagsabgeordnete und gegenwärtig außenpolitische Sprecherin der Bundestagsgruppe des Bündnisses Sahra Wagenknecht, Obfrau im Auswärtigen Ausschuss und jW-Lesern als Gastautorin vertraut.

Das Buch enthält zwölf Kapitel, einen Ausblick und eine grundlegende Einleitung. Deren zweiter Satz lautet: »Mehr als jemals zuvor setzt die Nordatlantikvertragsorganisation auf Expansion.« Gemeint sind der NATO-Stellvertreterkrieg »gegen Russland in Reaktion auf dessen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg«, aber auch die zunehmende Präsenz des Paktes in Asien und gigantische Militärausgaben. Überdehnung, soziale Verwerfungen und Eskalationsgefahr seien die Kehrseite »dieser expansiven Machtpolitik«, weswegen die NATO heute um so mehr auf Mythen angewiesen sei. Die Autorin nimmt hier drei zentrale auseinander, die sich »von der Gründung des Militärpakts durch dessen blutige Geschichte bis in die Gegenwart« ziehen.

Der erste - die NATO sei ein Verteidigungsbündnis - stützt sich auf Artikel 5 des Nordatlantikvertrages, die sogenannte Beistandsverpflichtung. Vorbild dafür, so Dagdelen, war der Interamerikanische Vertrag von 1947, der die Dominanz der USA auf dem amerikanischen Kontinent sicherstellt. Auch die NATO ist Teil der »Pax Americana«, eines Tauschgeschäftes unter völlig ungleichgewichtigen Staaten. Die übrigen Mitgliedsländer »verzichten auf Teile ihrer demokratischen Souveränität« und räumen der Führungsmacht Einfluss und Kontrolle über sich ein. Dafür erhalten sie im Gegenzug eine »Sicherheitsgarantie« der einzigen Macht, die im großen Maßstab Atomwaffen einsetzen kann. Dagdelen: »Die übrigen NATO-Mitglieder sinken innerhalb des Militärpakts zu Klientelstaaten herab wie jene, die einst im Osten des Römischen Reiches als militärische Pufferzone dem Machterhalt des römischen Imperiums dienten.« Die Konsequenzen: Gravierende innenpolitische Veränderungen werden unterbunden, wofür die NATO während des Kalten Krieges auch eigene »Putschorganisationen« in Gestalt sogenannter Stay-Behind-Gruppen unterhielt. Seit dem Ende der Sowjetunion verstehe sich die NATO als »Weltpolizist« und sei nach der »Ursünde« des Angriffskriegs gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 »zu einem Kriegsführungspakt« geworden, »der bereit ist, das Völkerrecht zu brechen«. Die »Blutspur« führe nach Afghanistan, in den Irak und nach Libyen.

Der zweite Mythos, »Demokratie und Menschenrechte« als Richtschnur, war schon 1949, so Dagdelen, »eine glatte Lüge«: Wie in Lateinamerika war jeder Faschist recht, wie Abkommen mit der spanischen Franco-Diktatur, die Gründungsmitgliedschaft des faschistischen Portugals und die mehrfache Anerkennung blutiger Putschis­ten in der Türkei und 1967 in Griechenland belegen. »Wertegemeinschaft und Menschenrechte«, der dritte Mythos: Für Dagdelen ist die NATO »der Schutzschirm für die Menschenrechtsverletzungen ihrer Mitglieder«. Sie sichere ihnen völlige Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen zu, wie der Fall Julian Assange, das von einem deutschen Oberst veranlasste Massaker von Kundus 2009 oder das Folterlager Guantanamo bewiesen. Dagdelen resümiert: »Um Auswege aus der gegenwärtigen Krise zu finden, bedarf es« der Enthüllung dieser Mythen. Der Militärpakt treibe »mit seiner globalen Expansion und seinen Konfrontationen die Welt näher an den Rand eines dritten Weltkriegs als jemals zuvor«.

Damit ist der Rahmen für die zwölf Kapitel abgesteckt. Die ersten vier befassen sich mit dem Ukraine-Krieg, fünf bis acht sind der NATO-Geschichte und zahlreichen Verbrechen gewidmet, neun und zehn untersuchen die Ausdehnung nach Asien und das Konzept »kognitive Kriegführung«, elf und zwölf die doppelten Standards der NATO wie im Fall Julian Assange oder beim Gazakrieg Israels. Der Ausblick fragt nach möglichen Alternativen und plädiert für ein kollektives Sicherheitssystem. Es gelingt selten, in einem Buch politische Aktualität und fundiertes Wissen um Fakten und Zusammenhänge so miteinander zu verbinden wie hier. Eine Argumentenfundgrube.

Sevim Dagdelen: Die NATO. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis. Westend, Frankfurt am Main 2024, 128 Seiten, 16 Euro
https://www.jungewelt.de/artikel/472898.75-jahre-nato-einfluss-und-kontrolle.html