06.04.2024 / Ansichten / Seite 8

Kolonialer Katzenjammer

Westen kritisiert Chinas Industrieproduktion

Wolfgang Pomrehn

Es ist noch gar nicht so lange her, da sangen die westlichen Regierungen noch das hohe Lied des Freihandels. Zölle waren böse und Kontrollen für Konzerne, Umweltauflagen oder soziale Standards wie das Einhalten von Gewerkschaftsrechten sowieso. Letzteres gilt noch immer, wie man an der FDP-Sabotage in Sachen Lieferkettengesetz sieht, doch seitdem es nicht mehr hauptsächlich die alten Industrienationen sind, die im Rest der Welt ihre Waren absetzen und die lokalen Industrien niederkonkurrieren, gibt es im Westen eine Renaissance der Zölle.

Ganz ausgestorben war die Politik der Zollmauern indes nie. Insbesondere die USA haben es sich immer gerne vorbehalten, die Einfuhr von Industriewaren zu beschränken, wenn es für einflussreiche oder strategische Branchen eng wurde. Auch hierzulande entdeckte man immer dann vermeintlich unfreundliche Subventionen bei anderen als Ausrede für Einfuhrbeschränkungen, Zölle und Geldgeschenke an die Industrie, sobald Zweige wie etwa die Werftindustrie nicht mehr auf dem Weltmarkt bestehen konnten.

Mit dem Aufstieg Chinas, das inzwischen in vielen Branchen ganz vorn mitspielt und noch weit vor den USA die mit Abstand größte Industrieproduktion hat, bekommt der westliche Protektionismus allerdings eine neue Qualität. Vom Freihandel ist nur noch selten die Rede, statt dessen jammert man lieber über chinesische E-Autos und Solaranlagen. Erst kürzlich hat die EU eine Untersuchung auf Subventionen gegen chinesische Solaranlagenhersteller eingeleitet, der Strafzölle folgen könnten.

Die USA haben solche bereits eingeführt, maulen aber immer noch über zu günstige chinesische Solaranlagen. Diese hatten sich im vergangenen Jahr noch einmal um etwa die Hälfte verbilligt, nachdem die Fertigungskapazitäten erheblich ausgeweitet worden waren. Die chinesischen Überkapazitäten würden die Preise auf dem Weltmarkt verzerren, beklagte sich letzte Woche US-Finanzministerin Janet Yellen. China würde die Welt als »Müllhalde« für seine Überproduktion nutzen. Man darf gespannt sein, ob ihre Gastgeber – Yellen ist noch bis kommenden Dienstag auf Staatsbesuch in China – diese nicht gerade diplomatische Wortwahl goutieren.

Dabei kann der Vorwurf absurder kaum sein. Sollten die niedrigen Preise tatsächlich aufgrund staatlicher Subventionen zustande kommen, dann hieße das nichts anderes, als dass China einen Teil seines Wohlstandes verschenkt. Aber auf jeden Fall könnten die günstigen Anlagenpreise in mehrfacher Hinsicht ein Segen für die Welt sein. Zum einen, weil ihre Installation inzwischen für mehr Arbeitsplätze als die Herstellung sorgt, und das auf jeden Fall vor Ort und nicht in China. Zum anderen, weil die Welt dringend einen schnelleren Ausbau der Nutzung der Solarenergie benötigt, um der Klimakrise Herr zu werden – und zumindest noch das Schlimmste zu verhindern.

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