04.04.2024 / Ausland / Seite 2

Einforderung des Wählerwillens

Türkei: Massenproteste nach Absetzung von neugewähltem Bürgermeister der Stadt Van

Nick Brauns

Den zweiten Tag in Folge kam es am Mittwoch im kurdischen Osten der Türkei zu heftigen Protesten gegen die Absetzung des neugewählten Oberbürgermeisters der Stadt Van. Noch am Sonntag hatte sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan international dafür feiern lassen, bei einer Kommunalwahl auch einmal die Opposition gewinnen zu lassen. Die kemalistische CHP war landesweit zur stärksten Partei geworden. Und die vor allem unter Kurden verankerte linke DEM-Partei gewann in 78 Städten und Gemeinden, die mehrheitlich seit acht Jahren unter staatlicher Zwangsverwaltung stehen, die Bürgermeisterämter.

Doch der demokratische Schein erwies sich als trügerisch. Keine 48 Stunden nach seiner Wahl wurde dem DEM-Politiker Abdullah Zeydan, der in der Großstadt Van 55,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, von einem Gericht rückwirkend die Wählbarkeit aberkannt. Statt dessen erhielt der mit 27,1 Prozent weit abgeschlagene Kandidat der islamistischen Regierungspartei AKP, Abdulahat Avras, die Ernennungsurkunde zum Oberbürgermeister. Begründet wurde dies mit einem am Freitag fünf Minuten vor Schließung des Gerichts erfolgten Einspruch des Justizministeriums gegen ein früheres Urteil, das die politischen Rechte des fünf Jahre lang unter Terrorismusvorwürfen inhaftierten Politikers wiederhergestellt hatte.

Gegen den Mandatsraub kam es bis in die späten Abendstunden zu militanten Protesten und Straßenschlachten in Van und anderen Städten. Jugendliche Demonstranten entzündeten Feuer und errichteten Straßenbarrikaden, die Polizei ging mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen vor. Am Mittwoch noch vor Sonnenaufgang während der Morgenmahlzeit des Ramadan drangen Aufstandsbekämpfungseinheiten der Polizei in Van in Wohnviertel ein, beschossen die Häuser mit Tränengasgranaten und stürmten Hunderte Wohnungen. Die Zahl der dabei festgenommenen und vielfach misshandelten Personen ist laut der kurdischen Nachrichtenagentur ANF unklar.

Aus Protest blieben am Mittwoch die Geschäfte in der Stadt größtenteils geschlossen. Trotz der mit gepanzerten Fahrzeugen präsenten Polizei sowie eines vom Gouverneur verhängten zweiwöchigen Versammlungsverbots strömten erneut Tausende Menschen gegen den von ihnen als »zivilen Putsch« bezeichneten Mandatsraub auf die Straße. Die Menge skandierte »Schulter an Schulter gegen den Faschismus« und »Abdullah Zeydan ist unsere Ehre«. Abgeordnete der DEM und der Arbeiterpartei (TIP) sowie eine CHP-Delegation beteiligten sich an den Protesten, die erneut von der Polizei attackiert wurden.

Auch in Bitlis, wo die DEM aufgrund der Stimmen Tausender als »mobile Wähler« in die Stadt gebrachter Soldaten und Polizisten knapp mit 37,38 Prozent im Vergleich zu 38,23 gegenüber der AKP verloren hatte, gilt ein 15tägiges Demonstrationsverbot.

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