02.04.2024 / Feuilleton / Seite 14

Unzeitgemäße Vorschläge

Pierre Deason-Tomory

Die von Rechten und Ultra­liberalen entfesselte GEZ-Debatte löst bei einigen ARD-Kulturradios Reformdurchfall aus. Ab dem 2. April gilt bei Bayern 2 und ab 15. April bei SWR 2 ein neues Sendeschema, aussortiert wurden z. B. hier Literatursendungen und dort Lesungen, um minimale Einsparungen zu erreichen, die keine zwei Minuten »Sportschau« finanzieren könnten. Die Maßnahmen werden als Dienst am Hörer begründet: Von seinem Publikum zu erwarten, dass es jeden Tag zu einer festen Zeit einschaltet, um über 15 oder 20 Folgen hinweg einer Lesung beizuwohnen, sei nicht mehr zeitgemäß, schreibt der Südwestrundfunk, der sein zweites Programm bei der Gelegenheit in SWR Kultur umbenennen wird.

Wiederum zum 2. April hat RBB Kultur sein zuletzt vor vier Jahren zusammengestrichenes Programm weiter verflacht und in Radio 3 rückumgetauft, im Laufe der kommenden Monate werde »die Redaktion (!) die Weiterentwicklung (!) fortsetzen«. Bravo, RBB, das sind gleich zwei Lügen in einem Nebensatz. Schließlich soll am 18. des Monats über die Streichung verschiedener »Formate« bei WDR 3 und WDR 5 entschieden werden. Wenn irgendwann die »Produkte« der Öffentlich-Rechtlichen dem privaten ­Programmschund wie ein Osterei dem anderen gleichen, wird die Rechtfertigung für das Gebührensystem entfallen sein. Dann haben die GEZ-Krieger ihren Kulturkampf gegen eine vielfältige Medienlandschaft gewonnen, indem sie die Öffentlich-Rechtlichen dazu brachten, sich selbst zu entkernen.

Wir starten die Programmvorschläge für die nächsten sieben Tage mit einer nicht zeitgemäßen Lesung über 24 Folgen hinweg: »Der Pojaz (1/24)« von Karl Emil Franzos, eingesprochen von Siegfried W. Kernen (Di., 22.04 Uhr, NDR Kultur). Ohne Dampfradios gäbe es statt vieler »Querköpfe« immer nur Dieter Nuhr. In der neuen Ausgabe DLF-Reihe wird ein »Hausbesuch bei Nessi Tausendschön« gemacht (Mi., 21.05 Uhr). Der japanische Philosoph Saito Kohei findet die Ursachen der multiplen Weltkrisen in der Wachstums- und Verwertungsideologie des Kapitalismus und forderte nicht einen Wandel, sondern – in einem entsprechend betitelten Buch – den »Systemsturz«. Auszüge gibt’s in den »Radio­geschichten Spezial« (Fr., 11.05 Uhr, Ö 1). Den »Hörspielartmix« am Freitag abend auf Bayern 2 gibt es nicht mehr, vielleicht versuchen wir es mit dem Hörstück »Arbeit (1/4)« über das Rattenrennen der prekär Beschäftigten, das sich in einer Berliner Frühlingsnacht vor den blinden Augen der Amüsierwütigen abspielt (MDR/RBB/WDR 2024, Ursendung, Fr., 19.05 Uhr, Radio 3).

Der Sonnabend gehöre einer zaubernden Königstochter, einer Seherin und einer Straßensängerin: »Medea«, Hörspiel von Helmut Peschina nach Euripides (ORF 2016, 14 Uhr, Ö 1), »Kassandra (1/2)« von Christa Wolf (WDR 1985, 19.04 Uhr, WDR 3) und »La Gioconda«, Oper von Amil­care Ponchielli, aufgeführt am 23. März bei den Salzburger Osterfestspielen mit der teilverfemten Kammersängerin Anna Netrebko in der Titelrolle (19.30 Uhr, Ö 1). Im »Lesenswert-Feature« geht Thomas David auf die »Suche in Dunkelheit und Licht«, um den Nobelpreisautor Jon Fosse ausfindig zu machen (ORF/WDR 2023, So., 14.05 Uhr, SWR 2). Abends ermittelt »Der Kommissar, der keinen Verdacht hatte«, im Sarajevo-Krimi von Tarik Haverić (NDR 1978, So., 19.04 Uhr, NDR Kultur). Und für den Beginn der kommenden Woche können wir eine weitere nicht zeitgemäße Hörfunkübertragung ankündigen; Xenia Tiling liest aus »Nochmal von ­vorne (1/10)«, dem neuen Roman von Dana von Suffrin (Mo., 8.30 Uhr, NDR Kultur).

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