02.04.2024 / Ansichten / Seite 8

Entsorgt oder entlastet?

Kiewer Personalrochaden

Reinhard Lauterbach

Man solle nicht in der Furt die Pferde wechseln, sagt das Sprichwort. In der Ukraine passiert in den vergangenen Wochen genau dies: Geradezu reihenweise werden Leute aus der zweiten Reihe des politischen Personals ihrer Posten enthoben, von denen aus sie andere in den Krieg geschickt haben, in den sie selbst nicht zu ziehen brauchten.

Es begann mit der Entlassung des militärischen Oberkommandierenden General Walerij Saluschnij im Februar. Er hatte die Dreistigkeit besessen, gegenüber der britischen Zeitschrift The Economist dem Zweckoptimismus seines Präsidenten über die militärische Lage einen realistischeren Blick gegenüberzustellen. Jetzt soll er schon seit einem Monat ukrainischer Botschafter in Großbritannien werden, aber die Sache hängt in der Luft, weil London angeblich das Agrément zu seiner Entsendung verzögert. Aus der Sicht von Wolodimir Selenskij war das Wegloben Saluschnijs in die britische Hauptstadt gedacht als Manöver, um den in Bevölkerung und Armee populären General aus der ukrainischen Innenpolitik herauszuhalten, zumal die Partei des Expräsidenten Petro Poroschenko Saluschnij offen umwirbt. Und wer weiß, vielleicht zieht sich die Einwilligung Londons in einen Botschafter Saluschnij ja auch genau deshalb hin, weil die Briten ihn als mögliche personelle Alternative zu Selenskij im Spiel halten wollen? Dazu passen Meldungen in US-Medien darüber, dass Saluschnij und sein russischer Kollege, Generalstabschef Waleri Gerassimow, angeblich hinter den Kulissen Optionen eines Endes der Kampfhandlungen sondieren.

Andere Aspekte der Kiewer Personalrochaden hängen wohl mit Selenskijs politischer Zukunft zusammen. Seine Amtszeit, für die er 2019 gewählt worden ist, endet am 20. Mai. Danach wird er nur noch aufgrund der Ausnahmebestimmungen des Kriegszustandes faktischer »Machthaber« sein, denn für die Dauer des Krieges sind laut ukrainischer Verfassung alle Wahlen suspendiert. Selenskij kann sich zwar auf die Bestimmung der Verfassung berufen, dass ein Präsident amtiert, bis sein Nachfolger das Amt antritt – wenn es keinen Nachfolger gibt, weil keiner gewählt worden ist, theoretisch also noch lange. Selenskij und sein Kanzleichef Andrij Jermak sind offenbar dabei, sich in diesem von der Verfassung als Interregnum gedachten Zustand für länger einzurichten. Durch ein faktisches Präsidialregime, in dem die nicht gewählte Administration und der nicht mehr gewählte Präsident das Land steuern, ohne sich um sonstige Institutionen kümmern zu müssen.

Die bisher letzte der Entlassungen ist dabei die interessanteste. Gegangen ist – oder wurde – der sogenannte Erste Assistent Selenskijs, Sergij Schefir. Er ist ein alter Kumpel des Präsidenten, faktisch sein Strohmann: Auf seine Familie wurden nach Selenskijs Wahl die Auslandsguthaben überschrieben, die das Staatsoberhaupt offiziell nicht besitzen darf. Es sieht nach Absetzbewegungen für den Fall der Fälle aus.

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