30.03.2024 / Ansichten / Seite 8

Geburtshelfer des Tages: Expressvorortzug

Arnold Schölzel

Witzig ist das nicht. Reuters machte am Freitag eine Meldung mit der reißerischen Schlagzeile auf: »In Südkorea soll Super-U-Bahn Geburtenrate steigern.« Anlass war die Eröffnung eines ersten Abschnitts des schnellen »Great Train Express« (Gtx) nach dem Vorbild von »Crossrail« in London und des RER in Paris durch Präsident Yoon Suk Yeol in Seoul. Der Staatschef meinte dabei, kürzere Fahrtzeiten ermöglichten Pendlern, »morgens und abends mehr Zeit mit ihrer Familie zu verbringen«. Nun ja. Nur in seinem englischsprachigen Dienst zitierte Reuters Yoons Infrastrukturminister Park Sang Woo, der zur Sache kam: Gtx mache es jungen Menschen möglich, über eine Wohnung weit weg von der Hauptstadt nachzudenken. Park: »Wie kann man zum Beispiel nach einem zweistündigen Heimweg Zeit für Babys einplanen?« Aha.

Die Erklärung für die landesväterliche Zeugungssorge: Erstens sind am 10. April in Südkorea Parlamentswahlen und die Opposition hat dort bislang die Mehrheit. Zweitens hat das Land die niedrigste Geburtenrate auf dem Globus (und die höchste Selbstmordrate). Am Mittwoch rechneten Statistiker vor, dass die Bevölkerung von heute etwa 52 Millionen Menschen bis 2072 auf knapp 37 Millionen schrumpfen und die Hälfte älter als 65 Jahre sein werde. Die Ursachen für die »Fruchtbarkeitskrise«, so Ökonomen, könnten wie überall an wenigen Fingern abgezählt werden: soziale und politische Unsicherheit (das Land ist faktisch US-Militärkolonie und Frontstaat gegen China), nur formale Gleichstellung von Frauen, niedrige Einkommen, aber hohe Mieten, reaktionäre Familienpolitik (Stichwort Adoption) usw.

Gtx ist für die Metropolregion Seoul (rund 25 Millionen Einwohner) wie jede moderne Eisenbahn eine Erleichterung. Ans Kinderkriegen glaubt aber die Seouler Regierung nicht, nur ans Verar… von Wählern.

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