30.03.2024 / Schwerpunkt / Seite 3

Zweckpessimismus hält Einzug

Ukraine-Krieg: Russland bindet erfolgreich Truppen an Frontlinie und setzt auf Zerstörung der Energiewirtschaft. Westen zunehmend zögerlich

Reinhard Lauterbach

Der Ton der offiziellen Statements aus Kiew wird immer verzweifelter. Zuletzt hatte Präsident Wolodimir Selenskij in einem langen Interview mit dem US-Fernsehsender CBS News eingeräumt, dass sein Land einer möglichen neuen russischen Bodenoffensive nicht gewachsen sein könnte. Als Zeitpunkt für einen solchen Angriff nannte Selenskij die zweite Maihälfte oder den Juni – wenn der Boden nach der Schlammperiode wieder trocken sei und schwere Waffen sich im Gelände bewegen könnten.

Natürlich war die Absicht dieses Interviews in erster Linie eine taktische. Selenskij versteckte die Warnung vor einer Niederlage der Ukraine in lauter Bedingungen, unter denen diese vermieden werden könnte. Nämlich in erster Linie, wenn insbesondere die USA endlich mehr Waffen und Munition lieferten. Was er allerdings über die Gründe der aktuellen russischen Überlegenheit an der Front sagte, zeigt, dass diese Gründe so kurzfristig, wie er neue Waffenlieferungen forderte, eher nicht zu beheben sein werden: überlegene Reichweite der russischen Artillerie gegenüber der ukrainischen, eine russische Überlegenheit bei Drohnen und Munition im Verhältnis sechs zu eins, und erheblich mehr Soldaten im Einsatz.

Gerade letzteres ist ein Problem, das für die NATO die Frage aufwirft, ob sie den nächsten Eskalationsschritt gehen und eigene Truppen zur Unterstützung der Ukraine in Marsch setzen soll. Offiziell ist die Antwort von seiten der USA und der NATO-Spitze ein Nein. Und angesichts der Tatsache, dass aus Washington und Brüssel in den vergangenen Wochen Kiew immer wieder vorgehalten wird, Geld und Granaten seien nicht alles, man brauche auch die Soldaten, um sie zu bedienen, kann man vermuten, dass dieses direkte Engagement an der Front zwischen Washington und Brüssel nicht als erste Wahl gesehen wird. Mit einigen Ausnahmen: Frankreich hat eine Fremdenlegion, von der sich nach Medienberichten ein Regiment auf eine Verlegung nach Osten vorbereitet, allerdings konkret wohl auch eher, um die ukrainisch-belarussische Grenze zu sichern und die etwa 100.000 momentan dort gebundenen Soldaten für den Einsatz an der Front freizusetzen.

Einstweilen scheint die russische Strategie in diesem Frühjahr in zwei Richtungen zu zielen: erstens die ukrainischen Truppen an der Front durch ständige Angriffe zu fesseln, so dass keine zum Gegenangriff fähige Gruppierung entstehen kann – dass es der Ukraine an Reserven fehlt, wird von ihren Militärs selbst zugegeben. Und Forderungen der Militärspitze, eine halbe Million Ukrainer zur Armee einzuziehen, haben sich als politisch nicht durchsetzbar erwiesen. Ein entsprechender Gesetzentwurf wird seit Herbst zwischen Ausschüssen hin- und hergeschoben. Und die Bereitschaft der Bevölkerung, ihre Männer in den Tod schicken zu lassen, liegt offenbar inzwischen so niedrig, dass sich Armeekommandeur Olexander Sirskij kürzlich öffentlich beschwerte, die Leute sollten aufhören, gegen die Einberufungsbeamten zu »hetzen« und Videos von ihren auf offener Straße aktiven Greifkommandos ins Netz zu stellen.

Das zweite Ziel ist im Moment offenbar die Logistik und Energiewirtschaft im ukrainischen Hinterland. Das soll den Nachschubtransport per Bahn lähmen und der Industrie den Strom nehmen, den sie unter anderem braucht, um Rüstungsbetriebe am Laufen zu halten und beschädigte Technik zu reparieren; ob es, wie auf ukrainischer Seite erklärt wird, auch Pläne gibt, zum Beispiel die Zivilbevölkerung aus der frontnahen Millionenstadt Charkiw durch deren »Abschaltung vom Netz« zur Flucht zu veranlassen, ist unklar. Eine tatsächliche Fluchtbewegung ist derzeit nicht zu beobachten, allerdings hat die Stadt nach Äußerungen ukrainischer Offizieller schon jetzt bis zur Hälfte ihrer Vorkriegsbevölkerung von 1,5 Millionen durch Abwanderung in die Westukraine oder ins Ausland verloren.

Vor allem bei den Angriffen auf Kraftwerke hat Russland in den vergangenen Tagen offenbar erhebliche Erfolge erzielt: Charkiw war zum Beispiel drei Tage völlig ohne Strom, das größte Wasserkraftwerk der Ukraine in Saporischschja verlor bei einem einzigen Angriff ein Drittel seiner Kapazität. Über die Angriffe zu Beginn dieser Woche meldete der Betreiber DTEK, dass zwei große Kohlekraftwerke in den westukrainischen Bezirken Winnyzja und Iwano-Frankiwsk um die 50 Prozent ihrer installierten Leistung verloren hätten; ein Wiederaufbau würde demnach etwa zwei Jahre dauern. In der Nacht zum Freitag wurden in sechs ukrainischen Regionen erneut Kraftwerke getroffen, allein drei in der wichtigen Industrieregion Dnipro (Dnjepropetrowsk). Bei der Gelegenheit wird deutlich, dass Meldungen über hohe Zahlen von abgeschossenen oder sonst unschädlich gemachten russischen Raketen, Drohnen und Marschflugkörpern wahrscheinlich erheblich geschönt sind: Wenn nach Angaben der ukrainischen Luftwaffe insgesamt nur zehn angreifende Projektile durchgekommen sein sollen, aber Kraftwerksbetreiber und Regionalbehörden weit höhere Zahlen an getroffenen Objekten melden, ist der Widerspruch unübersehbar.

Unter diesen Umständen wächst unter den westlichen Protektoren die Sorge, wie es mit dem Krieg weitergeht, den sie noch Anfang dieses Jahres bis weit ins Jahr 2025 fortgeschrieben hatten. Die Times aus London veröffentlichte am Mittwoch einen Leitartikel unter dem Titel »Es ist an der Zeit, dass wir über den Fall von Kiew sprechen«. Dahinter dürfte Zweckpessimismus stecken, zumal eingestandenes Ziel des Artikels war, die westliche Waffenhilfe zu beschleunigen. Aber weder Großbritannien noch die EU haben entsprechende Lagerbestände. Und Zeit scheint neben Granaten tatsächlich das zu sein, was der Ukraine durch die Finger rinnt.

Hintergrund: Kiew und der Terror

Eine Woche nach dem Anschlag auf die Konzerthalle bei Moskau veröffentlichen russische Medien weiterhin Indizien und Hinweise, die auf eine »ukrainische Spur« hindeuten sollen. Einer ist der Ort, an dem die vier mutmaßlichen Schützen in der Nacht nach dem Massaker gestellt wurden: Er befindet sich tatsächlich südlich der Stadt Brjansk auf der Straße, die von dort zur russisch-ukrainischen Grenze führt. Und sonst nirgendwohin.

Andere Indizien kann man glauben oder auch nicht: etwa Fotos von den beim Überfall verwendeten Kalaschnikow-Sturmgewehren, deren Farbgebung angeblich so nur von der ukrainischen Armee genutzt wird. Das können auch Beutestücke gewesen sein, um eine ukrainische Spur zu legen – davon sollte Russland nach zwei Jahren Krieg genug auf Lager haben.

Aber das bisher valideste Argument lieferte am Montag der Chef des ukrainischen Geheimdienstes SBU, Wassil Maljuk, frei Haus. Er kam im Gespräch mit dem Kiewer Fernsehsender ICTV ins Plaudern und gab zu, dass sein Dienst vor Morden nicht zurückschreckt. Im Wortlaut: »Sie (die Anschlagsopfer) zahlen jetzt ihre Karmaschulden an das Volk der Ukraine zurück. Natürlich werden wir das offiziell niemals zugeben, aber ich will Ihnen ein paar Einzelheiten erzählen: (Illja) Kiwa (ukrainischer Politiker, im Dezember 2023 bei Moskau getötet, jW) war ein Verräter, der die Ukraine verlassen und für den Feind gearbeitet hat. Er wurde in Abwesenheit zu 14 Jahren Haft verurteilt und wurde mit einem Brust- und einem Kopfschuss in der Nähe seines Hauses bei Moskau gefunden. Oder nehmen Sie (Wladlen) Tatarski (russischer Nationalist aus dem Donbass, im April 2023 in Sankt Petersburg ermordet, jW). Auch er hat sich vor dem ukrainischen Volk schuldig gemacht. Und er bekam in diesem Petersburger Wagner-Café eine Statuette in die Hand gedrückt; darin waren 400 Gramm Sprengstoff, die haben den Job erledigt.« (rl)

https://www.jungewelt.de/artikel/472352.ukraine-krieg-zweckpessimismus-hält-einzug.html