28.03.2024 / Sport / Seite 16

»Gefährliche Staatsfeinde«

Mainz: Durchsuchungswelle bei aktiver Fanszene. Strafverteidigung kritisiert unverhältnismäßigen Einsatz

Oliver Rast

Ein Anwohner hält das Schauspiel fest, die Linse seines I-Phones lugt zwischen blattlosen Ästen von Platanen am Straßenrand. Zu sehen ist folgendes: Eine Personengruppe, mehrheitlich in dunkelbunten Outdoorjacken und Bluejeans, drängt von links nach rechts über die Straßenecke an Baustellenschildern entlang; eine weitere, mit dem gleichen Dresscode, zahlenmäßig aber kleiner, weicht zurück und überquert dabei – ironischerweise – teilweise den Zebrastreifen. Währenddessen fliegen Fäuste, die wenigsten treffen; eher eine Art Schattenboxen auf öffentlichem Terrain. Dazu Gebrüll, Geschrei, alles unverständlich. Ende der 30sekündigen Sequenz auf dem Instagram-­Account »Fußball ist Tradition«.

Es ist Sonnabend, 17. Februar, kurz nach 11.30 Uhr. Der Wetterbericht sagt: diesig, bewölkt, feucht-kühl, fünf, sechs Grad Celsius. Mittenmang in der Mainzer Neustadt, nordwestlich der Altstadt, jenseits der breiten Kaiserstraße. Die beiden Meuten aus dem Videoschnipsel, zirka 30 versus 50, trafen dort Stunden vor dem Erstligakick zwischen dem 1. FSV Mainz 05 und dem FC Augsburg aufeinander.

Wissenswert: Aktive Fans der Mainzer und Augsburger mögen sich nicht. Weil: Bannerklau. Ende Oktober 2007 hatten Angehörige der FCA-Ultra­gruppe »Rude Boys« die Zaunfahne an 05er verloren – nach einem Match in Liga zwei im Bruchwegstadion. Der Kodex verlangt es: Gruppenauflösung, die »Rude Boys« waren Geschichte.

Auf das jüngste Kräftemessen folgten hingegen: Razzien. Am Dienstag voriger Woche, auf Antrag der Staatsanwaltschaft Mainz, durch einen Ermittlungsrichter am Amtsgericht erlassen. Insgesamt 45 Durchsuchungsbeschlüsse mit Schwerpunkt in Rheinland-Pfalz und Hessen, vereinzelt auch in Bayern und NRW, vollstreckten rund 300 Einsatzkräfte. Der Anlass war nicht nur der kurze Clinch in der Neustadt, ferner einer vor den Weihnachtsfeiertagen. Damals gerieten Anhänger der Mainzer mit Frankfurtern der Eintracht im Stadtgebiet aneinander. Der Vorwurf gegen Dutzende ermittelte Beschuldigte, vor allem FSV-Fans: schwerer Landfriedensbruch.

Die Durchsuchungswelle sei Ausdruck eines Polizeistaates, der sich in einem »Antiterrorkampf light« gegen Anhänger in den Kurven wähnt, erklärte die Mainzer Fanhilfe am vergangenen Sonnabend in einem Statement. Beschuldigte würden als »gefährliche Staatsfeinde« drangsaliert, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie es das rechtsstaatliche Übermaßverbot verlangt, ignoriert. Das sieht Niko Brill ähnlich. Klar, es gebe zwei Anlässe für polizeiliche Ermittlungen, aber die Reaktion seitens der leitenden Staatsanwältin sei völlig überzogen, sagte am Mittwoch im jW-Gespräch der Rechtsanwalt aus Mainz, dessen Kanzlei einige der Betroffenen vertritt. Brill stört auch, dass die Behörden auf Vorladungen verzichteten, statt dessen Beschuldigte mittels Hausdurchsuchungen und erkennungsdienstlicher Behandlung auf der Wache offenbar extra einschüchtern wollten. Die Maßnahmen dienten »der Ausforschung der Mainzer aktiven Fanszene«.

Und eh, starker Tobak, »schwerer Landfriedensbruch«. Für eine vergleichsweise harmlose »interne Prügelei« jedenfalls. Die Staatsanwältin war für jW am Mittwoch zwecks Replik nicht zu erreichen. Nach Informationen dieser Zeitung soll zudem das Mainzer Polizeipräsidium Druck auf den Verein ausgeübt haben, Stadionverbote gegen einzelne Ultras zu verhängen. Bislang hat sich Mainz 05 eher durch eine »moderate Praxis« ausgezeichnet. Fanbeauftragte wollten sich am Mittwoch hierzu gegenüber jW nicht äußern, ebenso wenig die Pressesprecherin des Vereins.

Davon unabhängig: Für die Fan­helfer aus Mainz bleiben die Razzien »ein koordinierter Angriff auf organisierte Fanstrukturen«.

https://www.jungewelt.de/artikel/472334.fußballrealität-gefährliche-staatsfeinde.html