26.03.2024 / Feuilleton / Seite 10

Wagnisse eingehen

Dem Verleger und Publizisten Matthias Oehme zum 70. Geburtstag

Kai Köhler

Die meisten Leute hätten abgeraten. Um das Jahr 2000 herum war Peter Hacks ein Geheimtipp in linken Kleinstgruppen, und kein Verleger mit ökonomischem Kalkül hätte eine Werkausgabe drucken lassen. 2003 aber gab es die fünfzehn Bände.

Kann man ohne Verankerung in der Universität, also ohne die Arbeitskraft der Institution, nicht bloß eine Hacks-Gesellschaft gründen, sondern jährliche Tagungen veranstalten? Natürlich ist das unmöglich. Allenfalls könnte man es zunächst mit einem Lesezirkel versuchen. Aber es gibt die Gesellschaft, es gibt die Tagungen, und es gab und gibt in Räumen, die im Laufe der Jahre wechselten, ein Programm von einem Umfang, den keine andere Autorengesellschaft vorzuweisen hat.

Matthias Oehme geht solche Wagnisse ein, und meist gibt ihm das Ergebnis recht. Dabei zeichnete sich für ihn zunächst eine ruhigere Laufbahn ab als die eines Verlegers. Sein Werdegang ist insofern typisch für die DDR, als das Abitur für das Studium nicht ausreichte. Dazu kamen eine Ausbildung als Maurer und der Dienst als Artillerist in der Nationalen Volksarmee (NVA). Das ist nicht nur lästig, sondern Verlust an Lesezeit! – ruft zu Recht der Bildungsbürger und hat doch Unrecht, weil solche verordneten Umwege Lebenserfahrung bedeuten und damit erlauben, das Gelesene zu verstehen. Nützlich ist zudem der Zwang, mit Leuten aus allerlei Bereichen des Lebens umzugehen. Das trainiert für die Zukunft. Matthias Oehme ist ein begabter Menschenfischer, der ganz unterschiedliche Personen in seine Vorhaben einzubinden vermag. »So leicht kommen Sie mir nicht davon«, schrieb er mir, als ich auf seine erste Mail in Sachen Hacks eher neutral antwortete. Tatsächlich kam ich ihm gar nicht davon.

Zunächst jedenfalls studierte Oehme 1976 bis 1981 in Leipzig Germanistik und promovierte 1987 an der Akademie der Wissenschaften der DDR Berlin zu Friedrich Schillers dramatischen Fragmenten. Zugleich wirkte er an der Edition von Schillers Werken mit. Als freier Mitarbeiter der Zeitschrift Temperamente, die als »Blätter für junge Literatur« Nachwuchsautoren eine Publikationsmöglichkeit boten, beschäftigte er sich ebenso mit Werken der Gegenwart wie als Rezensent für die Neue Deutsche Literatur, des Organs des Schriftstellerverbands der DDR.

Vorgezeichnet war also ein produktives Leben als Literaturhistoriker und kritischer Begleiter der Gegenwartsdichtung. Die Konterrevolution 1989/90 mit der brachialen Zerschlagung der Akademie erzwang eine Neuorientierung. Aus dem Wissenschaftler wurde ein Verleger. Zusammen mit Dorothea Oehme gründete er 1990 die Unabhängige Verlagsbuchhandlung Ackerstraße. Deren literarisches Programm war ambitioniert. Doch erlaubte erst der Erwerb des Eulenspiegel-Verlags 1993 eine breitere Wirkung. Nach und nach ergänzten wichtige DDR-Verlage die Gruppe: das Neue Berlin, Neues Leben und der Militärverlag. Die Edition Ost bietet Raum, der offiziellen Geschichtslüge von den zwei totalitären deutschen Diktaturen entgegenzutreten. Im Aurora-Verlag erscheint Literaturwissenschaft – nicht nur, aber vor allem zu Peter Hacks – und politische Philosophie.

Im Zentrum der Verlagsprogramme standen lange Zeit Bücher aus und über die DDR. Repräsentanten verschiedenster Lebensbereiche, von der Kunst über den Sport bis zur Politik, haben bei Eulenspiegel ihre Erinnerungen publiziert und so ein reiches Material für eine künftige, hoffentlich unvoreingenommene Wissenschaft gesichert. Manche Witzsammlung diente dagegen offenkundig vor allem dem Zweck, Geld zu verdienen für das, was Oehme nach wie vor will: Literatur verfügbar zu machen, die es verdient. Die Hacks-Ausgabe ist mittlerweile durch aufwendige Editionen des Frühwerks und vieler Briefwechsel ergänzt worden. Eine verlegerische Großtat bleibt die vierbändige Werkausgabe von Rainer Kirsch.

Der DDR-Schwerpunkt sollte nicht den Blick darauf verstellen, dass Oehmes verlegerische Arbeit, auch über das Geschichtspolitische hinaus, stets auf das Aktuelle gerichtet ist. Der Literaturhistoriker kennt die Bedeutung des kulturellen Erbes fürs Heute und verlegte die beiden Bände André Müllers mit Shakespeare-Analysen. Essays und Essaysammlungen sehr verschiedener Autoren wie Felix Bartels, Detlef Kannapin, Lukas Meisner oder Marlon Grohn bringen gegenwärtige Konfliktlinien auf Begriffe. Zu kaum einem zentralen gesellschaftlichen Ereignis der jüngeren Zeit fand sich nicht spätestens im übernächsten Halbjahresprogramm von Eulenspiegel ein Titel.

Tempo geht nicht ohne Vertrauen in die Autoren. Auch in dieser Hinsicht ist Matthias Oehme zu Wagnissen bereit. Oft klappt das, immer natürlich nicht. Oehme vertritt klare ästhetische und politische Positionen und weiß zugleich, wo er als Leiter eines Publikumsverlags nicht auf das Maximum besteht. Dadurch steht Eulenspiegel für linke Inhalte und ist doch nicht linke Nische.

All das kostet Kraft. Das Lager eines Grossisten brennt ab, der ist kaum versichert, Tausende von Büchern sind weg. Fest zugesagte Fördergelder gibt es dann doch nicht. Ein neues Feuer, diesmal sind die Räume des Verlags von plastikverseuchtem Qualm kontaminiert. Und ohnehin erleben kleine und mittelgroße Verlage eine ökonomische Dauerkrise. Manche Leute hätten vielleicht lieber den Betrieb zugemacht. Doch führt Oehme mit Eulenspiegel einen der wichtigsten linken Verlage des Landes weiter. So leicht kommt er uns nicht davon.

https://www.jungewelt.de/artikel/472172.verlagswesen-wagnisse-eingehen.html