25.03.2024 / Feuilleton / Seite 10

Endlich Französin

Comickünstlerin Marjane Satrapi macht inzwischen Wandteppichkunst für die Olympischen Spiele in Paris

Barbara Eder

In seinem Essay »The Craftsman« (dt.: »Handwerk«) hebt der britische Soziologe Richard Sennett die Vorzüge eines Vermögens hervor, das in westlich-kapitalistischen Gesellschaften allmählich zu verschwinden droht. Im Handwerk fänden Formen des Wissens zueinander, für die Partituren, Manuskripte oder andere Bastelanleitungen lediglich sekundäre Manifestationen darstellten. Sennett, der gelernte Cellist, setzt auf das schweigsame Wissen der Hände und stilisiert den Handwerker zu einer Art modernem Hephaistos, der die Welt mit Hammer und Amboss in Form bringt; die Verfertigung des Linux-Kernels vergleicht er mit der frühkapitalistischen Herstellung eines Stücks Stoff, bei der spezialisierte Experten am selben Werkstück laborierten.

Die Rückübersetzung des Webdesigns in die Welt des Analogen stellte zuletzt auch die 1969 im Iran geborene Comickünstlerin Marjane Satrapi vor einige Anforderungen. Im Auftrag des Pariser Organisationskomitees für die Olympischen und Paralympischen Spiele 2024 hatte sie die Skizze für einen Wandteppich angefertigt, an dem die Weber einer Pariser Edelmanufaktur über drei Jahre hinweg gearbeitet haben. Ihr textiles Monument misst 9,5 mal 3,4 Meter und ist aus Wollgarn geknüpft. Kürzlich wurde das Triptychon in der Pariser Manufacture de Beauvais der Öffentlichkeit präsentiert, 1664 gründete Ludwig XIV. die nationale Webstätte.

Die äußeren Flügel von Marjane Satrapis Wandbild repräsentieren »Randsportarten« im Keith-Haring-Stil: In Form von bunten Silhouetten sind eine Speerwerferin, ein Skateboarder und ein Breakdancer zu sehen. Der mittlere Teil zeigt die Umrisse von zwei Olympioniken, die einander in Bewegung zugewandt sind. Der Bildhintergrund erinnert an die Pariser Stadtlandschaft, umrahmt von den Bögen des Eiffelturms; über den Händen des olympischen Paares steigt die Flamme des olympischen Feuers in unterschiedlichen Farbschattierungen empor.

»Der Sport ist der einzige Ort, an dem die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen aufgrund der Unterschiede gerechtfertigt ist«, bekundete Marjane Satrapi zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe. Es scheint, als ob sich mit dem Medium auch ihre Positionen verändert hätten. Eine wie auch immer geartete Geschlechterdifferenz ließen ihre holzschnittartigen Comics in harten Schwarz-Weiß-Kontrasten lediglich erahnen – und auch sonst war die Verortung der mit der zweibändigen Coming-of-Age-Story »Persepolis« bekanntgewordenen Künstlerin doch eher eine des In-Between. Ihr zwischen dem Iran, Österreich und Frankreich changierendes Comic-Alter-Ego wird darin zur wurzellosen Zynikerin, die über alles lacht, was sich ihr in den Weg stellt – nicht zuletzt über alles Nationale.

Anlässlich der Enthüllung eines staatstragenden Werks der modernen Handwerkskunst hat Marjane Satrapi andere Töne angeschlagen. Le Monde gegenüber gab sie zu verstehen, dass sie im Kühlschrank stets ein paar Escargots vorrätig habe. Auch vor weiteren Eingemeindungen durch die Grande Nation schreckt sie nicht länger zurück: Mit den Worten »Endlich gelte ich als Französin!« hat sie stolz ihren Auftrag angenommen.

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