21.03.2024 / Ansichten / Seite 8

Die Rausreder

Völkermord in Leningrad

Reinhard Lauterbach

Man könnte die Frage für akademisch halten, ob die Belagerung von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht ein Kriegsverbrechen war oder ein Akt des Völkermordes. Aber so ganz akademisch ist sie nicht. Vor ziemlich genau sieben Jahren erläuterte die Bundesregierung einer Gruppe von Abgeordneten der Partei Die Linke, die wegen Entschädigungsmöglichkeiten für Opfer der ­Blockade eine kleine Anfrage gestellt hatten, den Unterschied: »Schädigungen, die nicht aus rassisch motivierter Verfolgung, sondern aus allgemeinen Kriegshandlungen herrühren, (…) werden (…) durch Reparationsvereinbarungen von Staat zu Staat geregelt. Es obliegt dem Staat, der Reparationen empfangen hat, die individuellen Schäden auf seinem Territorium auszugleichen«. Und da die Sowjetunion nach dem Juniaufstand in der DDR 1953 auf weitere Reparationen von deren Seite verzichtet hatte, war die BRD wegen der Form, in der sie 1990 die DDR übernahm, fein raus, obwohl sie nie Reparationen an die UdSSR geleistet hatte: »Die Blockade von Leningrad ist eines der vielen schrecklichen deutschen Kriegsverbrechen im Krieg gegen die Sowjetunion, an die die Erinnerung weiterhin wachgehalten werden muss. Unter dem Blickwinkel von rechtlichen Ent­schädigungsleistungen ist das Thema im deutsch-russischen Verhältnis allerdings abgeschlossen«.

»Eines der vielen schrecklichen Kriegsverbrechen« – das ist die billigste Art und Weise, sich aus einer Verantwortung herauszureden: Es waren ja sooo viele, da kommt es auf eines mehr oder weniger auch nicht mehr an. Gipfel des amtlichen Berliner Zynismus war die dort geäußerte Behauptung, den sowjetischen Juden habe ausnahmslos die Ermordung gedroht, den Bewohnern von Leningrad dagegen nicht. Sie mussten nur 900 Tage Hunger aushalten.

Ob Russland ernsthaft glaubt, mit der nun geforderten Einstufung der Blockade als Völkermord durch den Bundestag noch irgend etwas für die wenigen bis heute Überlebenden herauszuholen, kann man bezweifeln. Allerdings hat Moskau die Quellenlage auf seiner Seite. So erklärte am 20. Juni 1941 der für das Ostministerium vorgesehene Alfred Rosenberg explizit die genozidale Absicht der deutschen Hungerpolitik in der zwei Tage später anzugreifenden UdSSR: »Wir sehen durchaus nicht die Verpflichtung ein, (…) das russische Volk mit zu ernähren. (…) Zweifellos wird eine sehr umfangreiche Evakuierung notwendig sein, und dem Russentum werden sicher sehr schwere Jahre bevorstehen.« »Dem Russentum« – das meint das Volk, das ist breiter gefasst als die ohnehin schon verbrecherischen Absichten gegenüber den »jüdischen Bolschewisten«. Die Naziführung hatte das »slawische Element« zu »unnützen Essern« erklärt – mit der bewusst eingegangenen Konsequenz: »Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.« Was braucht es noch für den Völkermord?

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