20.03.2024 / Feuilleton / Seite 10

Ein stiller Mann

»Dann ist’s aus mit dem Leben«: Die Tagebücher des österreichischen Wehrmachtdeserteurs und Antifaschisten Rudolf Bilgeri

Sabine Fuchs

In der BRD und Österreich galten Deserteure der Wehrmacht lange als Volksverräter, ihnen drohte soziale Ächtung und der Verlust der Alterspension. Erst in diesem Jahrtausend wurden gesetzliche Regelungen getroffen, die das änderten. In der DDR, immerhin, war es anders – als Opfer des Faschismus wurden sie sogar geehrt. In Berlin und Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz) etwa waren Straßen nach Fritz Schmenkel benannt, der von der Wehrmacht wegen Desertation hingerichtet worden war. Nach der »Wende«, wen wundert es, kam es erneut zu einer Namensänderung, die bis heute Bestand hat. Der 1907 geborene Rudolf Bilgeri war sich darüber im klaren, dass ihm, ­würde er als Deserteur gefasst, die Hinrichtung drohte: »Werden wir verfolgt und eingefangen, dann ist’s aus mit dem Leben«, schrieb er in sein Tagebuch. Trotzdem entschloss er sich im Spätsommer 1944 zu dem folgenreichen Schritt. Nun sind seine Aufzeichnungen aus der Zeit im Innsbrucker Universitätsverlag erschienen, erweitert um ein ausführliches Vorwort der Herausgeber Peter Pirker und Ingrid Böhler sowie um Texte des Historikers Iason Chandrinos und von Bilgeris Sohn, dem Filmemacher und Rockmusiker Reinhold Bilgeri.

Der Vorarlberger Lehrer, der 1943 einberufen wurde und als technischer Zeichner in der Militärverwaltung von Athen eingesetzt war, stand als gläubiger Katholik dem Nazifaschismus von Anfang an kritisch gegenüber. Die Nazis hielten ihn für politisch unzuverlässig, wie ein Dokument aus der Zeit belegt. Trotzdem war sein Entschluss, gemeinsam mit zwei Gleichgesinnten zu desertieren, nicht in erster Linie politisch motiviert – er wollte überleben, seine Frau und seine Kinder wiedersehen und nicht im Rückzugskampf der Deutschen als Kanonenfutter dienen.

Am 3. September 1944 flohen die drei Männer aus der Kaserne und täuschten, um ihre Angehörigen daheim zu schützen, eine Entführung durch Partisanen vor. Tatsächlich schlossen sie sich ihnen aber an. Dies ist der spannendste Teil von Bilgeris Aufzeichnungen: Das Warten auf die Befreiung, das Hin-und-her-Geschobenwerden von Quartier zu Quartier, die Hilfsbereitschaft der Partisanen und die Gespräche, die Bilgeri mit ihnen führte, oft auf französisch. Immer wieder wird deutlich, wie wichtig die Frauen des griechischen Widerstands waren, angefangen von der jungen Dolmetscherin des Wehrmachtsstabs, die für die Gruppe die Kontakte zur Widerstandsbewegung ELAS herstellte und so die Flucht erst möglich machte, bis zu jenen, die die Gruppe mit Essen und Informationen versorgten.

Am 15. Oktober galt Athen offiziell als befreit, die deutschen Truppen waren abgezogen. Aber schon während der Befreiungsfeiern kam es zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der linken ELAS und der EDES, die von den Briten in den Wochen zuvor mit dem Ziel, eine kommunistische Machtübernahme zu verhindern, von einer kleinen politischen Gruppe zu einer Konkurrenzorganisation umgeformt und bewaffnet worden war. Der griechische Bürgerkrieg, der keine zwei Monate später ausbrechen sollte, kündigte sich an.

Weil der Hass auf Deutsche unter dem Eindruck der nun bekanntwerdenden Greueltaten der Nazis immer größer wurde und die griechischen Freunde ihre Sicherheit nicht mehr garantieren konnten, beschlossen die Deserteure im November 1944, sich in britische Kriegsgefangenschaft zu begeben. Dort wurden sie, unschöne Überraschung, in ein Kriegsgefangenenlager nach Ägypten verschifft, gemeinsam mit teils fanatischen Nazis. Eindrücklich schildert Bilgeri, wie er und andere beschimpft und misshandelt wurden, auch von einem Mord an einem Nazigegner wird berichtet. Schließlich trennten die Briten die Antifaschisten von den Fanatikern, die Bilgeri als seine »grimmigsten ­Feinde« bezeichnete. Zwei Jahre lang blieb er in Kriegsgefangenschaft. In dieser Zeit schrieb er auch sein Tagebuch – eigentlich zeitnah verfasste Erinnerungen – die er seiner Frau und seinen Kindern widmete.

Nach der Heimkehr sprach er kaum über die Kriegszeit, überhaupt war er »ein stiller Mann«, so sein Sohn. Dass sein Text nun veröffentlicht ­wurde, ist auch einem Forschungsprojekt der Universität Innsbruck zu verdanken, das den Tiroler und Vorarlberger Deserteuren des Zweiten Weltkriegs gewidmet ist. Rund 800 Biographien konnten bereits rekonstruiert werden. Wie viele der Betroffenen hat auch Rudolf Bilgeri die Rehabilitation der Deserteure Anfang der 2000er Jahre nicht mehr erlebt, er starb 1992. Nun wurde sein Tagebuch in einer liebevoll gestalteten Ausgabe mit vielen Abbildungen veröffentlicht.

Rudolf Bilgeri: Bei den Partisanen in Athen. Tagebuch eines Deserteurs der Wehrmacht. Herausgegeben von Peter Pirker und Ingrid Böhler. Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 2023, 176 Seiten, 24,90 Euro

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