16.03.2024 / Schwerpunkt / Seite 3

Großmacht als Credo: Ihr Programm hat die Regierung zuletzt im Februar skizziert

Reinhard Lauterbach

Eine im Vorfeld der Präsidentschaftswahl in Russland plakatierte Parole lautet: »Der Westen braucht kein Russland. Wir brauchen es.« Die zwei Sätze fassen knapp zusammen, was Wladimir Putin Ende Februar in seiner Ansprache vor der Föderationsversammlung in gut zwei Stunden dargelegt hat: ein Programm zur Erhaltung und Stärkung der staatlichen Souveränität Russlands auf allen Gebieten. Verteidigungsfähigkeit nach außen, Modernisierung nach innen, um die Grundlage für eine eigenständige und vom Ausland unabhängige russische Staatsmacht zu schaffen. Verbunden mit einer vergleichsweise großzügigen Sozialpolitik, die diejenigen bei der Stange hält, deren Job es ist, die stofflichen Grundlagen dieser Souveränität zu erarbeiten. Denn nichts macht bessere Staatsbürger, als die Abhängigkeit von staatlichen Sozialleistungen.

Putins Innenpolitik pflegt einen selektiven, aber geschickten Umgang mit dem Erbe der Sowjetunion. Woran er rückhaltlos anknüpft, sind der so­wjetische Patriotismus und das – Generationen sowjetischer Bürger in Fleisch und Blut übergegangene – Gefühl, Angehörige einer Großmacht zu sein, deren Wort in der Welt gehört werden müsse. Nichts anderes ist Putins ständiges Credo. Von diesem Nationalstolz mag sich der Arbeiter in Perm, die Kindergärtnerin in Orenburg oder der Nickelschürfer in Norilsk nicht viel kaufen können, aber für die politische Klasse ist der Großmachtanspruch tatsächlich zentral. Russland könne nur als Großmacht existieren, hat Putin vor längerer Zeit einmal gesagt. Nur als Großmacht könne es den Anspruch, mehr zu sein als das räumlich größte Land der Erde, nämlich eine eigene Zivilisation, aufrechterhalten. Aus diesen beiden Elementen, Macht und Eigenständigkeit, ergibt sich dann vieles weitere: so die Stoßrichtung gegen die »Schmutz- und Schundkultur« aus dem Westen und die Hinwendung zu »wahren Werten«, für deren Quellen Putin auf die orthodoxe Religiosität und »russische Spiritualität« zurückgreift, ohne im Detail zu benennen, was er daran für das 21. Jahrhundert für erstrebenswert hält. Oft wird als Illustration dazu eine, angeblich den slawischen Völkern spezifische, Neigung zu Gemeinschaftsgeist und Solidarität herangezogen.

Auf praktischer Ebene geht damit eine relativ großzügige Familienpolitik einher. Die russischen Frauen sollen a) überhaupt und b) mehr Kinder bekommen. Putin hat in seiner Rede vom 29. Februar ausdrücklich die Familie mit drei oder mehr Kindern als erstrebenswertes Modell hingestellt, wobei er sich des Dilemmas wohl bewusst ist, dass Russland auch gut ausgebildete und beruflich aktive Frauen braucht. Er wisse nicht, wie die russischen Frauen das hinbekämen, sagte er im Februar bei einem Auftritt vor Studierenden einer Moskauer Hochschule, aber er bewundere sie dafür. An dieser Stelle weiß Putin offensichtlich, dass er hinter bestimmte Errungenschaften der sowjetischen Modernisierung nicht mehr zurückkommt; man sieht es auch daran, dass er in seiner Familienpolitik nach wie vor auf materielle Anreize und ideologische Appelle setzt und eine seit Jahren laufende Kampagne der Orthodoxen Kirche, das Abtreibungsrecht zu verschärfen, zumindest auf der gesamtstaatlichen Ebene ignoriert. Dass regionale Behörden diesen reaktionären Appellen teilweise offener gegenüberstehen und so die Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch zumindest im staatlich finanzierten Gesundheitswesen allmählich eingeschränkt werden, tut dem keinen Abbruch. Putin weiß offenkundig, dass nur gewollte Kinder von ihren Familien gefördert und zu nützlichen Staatsbürgern herangebildet werden und dass sich Russland mit Massen vernachlässigter Kinder langfristig keinen Gefallen tut.

Man kann lange darüber reden, wieviele von Putins sozialen Ankündigungen im Grunde Dauerbrenner sind – also in der Vergangenheit nicht umgesetzt wurden. Die Idee eines Staates, der seine Bürger nicht nur in den Dienst nimmt, sondern sich auch um ihr soziales Wohlbefinden und so im weitesten Sinne auch darum kümmert, dass sie ihre Dienste in Staat und Wirtschaft leisten können, zeugt einerseits von dem, was man Putins aufgeklärten Konservatismus nennen könnte; es ist aber auch ein weiterer Anknüpfungspunkt an die in weiten Teilen der russischen Gesellschaft lebendige positive Erinnerung an die Sowjetunion. Sie spiegelt sich auch darin wider, dass nach wie vor ein irgendwie gearteter Sozialismus in allen Umfragen zum Thema des bevorzugten politischen Systems weit vorn liegt und knapp die Hälfte der Befragten angibt, einen Lebensstil wie in der Sowjetunion – natürlich ohne die »Fehler und Entstellungen« – anzustreben.

An dieser Stelle passt es, dass Putin offenbar auch sowjetischen Methoden der Wirtschaftslenkung einiges abgewinnen kann: Wenn er Russland reindustrialisieren und zu einer im Grunde autarken Überlebenswirtschaft umbauen will, hat das viele Parallelen mit der sowjetischen Industriepolitik der Nachkriegszeit. Auch sie hatte ja über Jahrzehnte mit Sanktionen des kollektiven Westens zu kämpfen und musste lernen, das Nötige selbst herzustellen. Mit dem in den 1990er Jahren über Russland hereingebrochenen »Ressourcenfluch« – der Vorstellung, sich mit hohen Einnahmen aus dem Rohstoffexport alles ansonsten Nötige zur Not importieren zu können und darüber die heimische Produktion vernachlässigen zu können – will Putin jedenfalls Schluss machen. So ganz programmfrei, wie es westliche Analytiker anlässlich der Wahl sagen, ist er also nicht.

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