02.03.2024 / Wochenendbeilage / Seite 6 (Beilage)

»Dann geh doch«

Was hat Mohamed mit der Hamas zu tun? Warum sich Menschen mit Migrationshintergrund seit dem 7. Oktober von diesem Land verraten fühlen

Marcus Staiger

Hunderttausende Menschen gingen in den vergangenen Wochen gegen Rassismus auf die Straße. Hunderttausende protestierten für mehr Toleranz, Demokratie und gegen die Abschiebepläne der AfD. Hunderttausende sprechen sich für ein friedliches Zusammenleben in dieser Gesellschaft aus, egal welcher Herkunft die Menschen sind, und trotz allem fühlen sich viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte weder eingeladen noch angesprochen. Besonders Menschen mit arabischen Wurzeln sehen den Kampf der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegen Rassismus und Faschismus mit Skepsis, was gar nicht so sehr an den »Remigration«-Plänen von ein paar Neonazis liegt, sondern eher an der Verlogenheit der linksliberalen Kaste.

Die deutsche Politik hat sich blamiert. Die »wertegeleitete Außenpolitik« der Bundesregierung steht vor dem Bankrott. Auf der einen Seite wird Russlands völkerrechtswidriger Krieg gegen die Ukraine zu Recht verurteilt und mit sehr viel staatstragender Rhetorik Solidarität zelebriert, auf der anderen Seite stellt man sich bedingungslos an die Seite Israels, das in seiner Reaktion auf das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 jegliches Maß verliert und dessen Militär Zehntausende palästinensische Opfer auf dem Gewissen hat – und keiner schreitet ein.

Kein Wunder also, wenn das Verhalten der Bundesregierung als Heuchelei empfunden wird. Auf der einen Seite stehen Vertreter der Regierungsparteien auf Demonstrationen herum, um gegen die Menschenverachtung der AfD zu protestieren, auf der anderen Seite bekommen dieselben Regierungsmitglieder den Mund nicht auf, um Israels menschenverachtende Kriegspolitik im Gazastreifen nachdrücklich zu kritisieren. Schlimmer noch. Abgesehen davon, dass diese Figuren es auch noch hinbekommen, gleichzeitig ein »Rückführungsverbesserungsgesetz« zu verabschieden, sind sie und diverse Landespolitiker darüber hinaus dafür verantwortlich, dass sämtliche propalästinensischen Demonstrationen als antisemitisch diffamiert werden und zu Beginn des Krieges gegen Gaza sogar ganz verboten waren. Die Polizei zeigte in der Berliner Sonnenallee Dauerpräsenz, ähnlich einer Besatzungsmacht, die Polizeigewalt gegenüber propalästinensischen Demonstrationen ist nach wie vor außergewöhnlich hoch.

Die Spitze des Eisbergs

Auf der einen Seite sprechen sich also Vertreter des linksliberalen Establishments gegen Rassismus und Unterdrückung aus und feiern sich für ihr Diversity Management, auf der anderen Seite lassen dieselben Leute ihrem antiarabischen Ressentiment freien Lauf, wenn sie der Meinung sind, dass propalästinensische Stimmen den deutschen Kampf gegen den Antisemitismus stören würden. Stimmen, die den Rassismus und die Unterdrückungspolitik des israelischen Staates ansprechen, gehören nämlich nicht zum wertebasierten Diskurs dieses Landes, egal, wie divers sie sind. Sie werden gesilenced und ausgeschlossen. Moderatoren wie Malcolm Ohanwe werden entlassen. Die Rapperin Nura wird aus einer Fernsehsendung ausgeladen, und eine klare Positionierung auf der Berlinale wird zum Eklat erklärt, aus dem Konsequenzen gezogen werden müssen, wobei der Eklat allerdings nicht darin besteht, dass in Gaza jeden Tag Zivilisten ermordet werden, sondern darin, dass zwei Preisträger laut über diese Verbrechen gesprochen haben. Fußballer werden freigestellt oder müssen sich öffentlich für ihre Postings auf Social Media entschuldigen. Menschen müssen um ihre Jobs oder ihre Karrieren fürchten, wenn sie öffentlich ihre Meinung sagen, wobei auch von Staats wegen alles daran gesetzt wird, Palästina-Solidarität zu kriminalisieren.

»Ihr macht unsere Demonstration kaputt!« schrie kürzlich eine wütende »Antirassistin« vor dem Reichstag arabischstämmige Menschen an, die sich mit einer Palästina-Flagge an den Anti-AfD-Protesten beteiligen wollten, wobei zumindest auf einer der Großveranstaltungen das Verbot von Palästina-Flaggen von der Polizei eingefordert wurde, weswegen sich die Organisatoren dann darauf verständigten, sämtliche Nationalflaggen für unerwünscht zu erklären. Trotz allem wurden beim sogenannten Aufstand der Anständigen immer wieder Menschen angefeindet, die ihre Solidarität mit Palästina zum Ausdruck brachten (auch ohne Flaggen), und ihnen wurde klargemacht, wer denn nun am Ende zum Volk der »Anständigen« gehört und wer nicht.

Das schlägt Wunden. Das wirft Gräben auf. Doch all das ist nur die Spitze des Eisbergs. Direkt nach dem mörderischen Anschlag der Hamas auf Israel, nach dem 7. Oktober 2023, setzte eine Entwicklung ein, die sich auch im politischen Sprech der Parteien und Feuilletons ausdrückte. Es ist das Versagen einer linksliberalen Kaste, die sich gerne als woke, weltoffen und bunt inszeniert, die aber mit ihrer Einseitigkeit die eklatante Verletzung von Menschenrechten nicht erkennen kann und ihre eigenen Verbündete verrät. Und das trifft.

Das Grundrauschen

Es sind nicht so sehr die Erkenntnisse über ein Geheimtreffen der AfD, die Menschen mit Migrationsgeschichte den Eindruck vermitteln, in diesem Land nicht gewollt zu sein. Das ist Nazishit, und Nazis tun, was Nazis tun. Was soll man von der AfD anderes erwarten? Es waren die Stimmen aus der linksliberalen »Mitte«, die schmerzen und letztendlich zu einer erheblichen Desintegration beitragen. Es waren diese Forderungen aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft, jeden abzuschieben, der sich der deutschen Staatsraison nicht unterordnen will, von einflussreichen Kulturschaffenden über Fleischhauer, Merz, Lederer und Habeck bis hin zu Sascha Lobo. Es ist dieses Grundrauschen in Politik und Feuilleton, das dazu führt, dass man mit diesem Staat und dieser Gesellschaft am liebsten gar nichts mehr zu tun haben möchte.

Was in den vergangenen vier Monaten aus dem politischen Betrieb zu hören war, hat vielleicht genauso zur Verunsicherung von Menschen mit Migrationsgeschichte beigetragen wie der NSU-Komplex und der terroristische Anschlag von Hanau zusammen. Was da in den vergangenen Monaten im linksliberalen Milieu von sich gegeben wurde, war die pure Feindschaft. Mein Freund und Koautor Mohamed Chahrour sagt: »Hey, die hassen uns. Die hassen uns ja wirklich.«

Was nach dem 7. Oktober auch im Zuge der Migrationsdebatte an Abschiebephantasien formuliert wurde, lässt für viele aus der migrantischen Community nur einen Schluss zu: Die ganze Geschichte um Integration, Zusammenleben, Multikulti war nur gespielt. Das ging nur solange gut, solange man der Staatsraison und dem Aufarbeitungspatriotismus der vom Antisemitismus geläuterten Bundesrepublik nicht in die Quere kommt. Falls doch, dann fallen die Masken, und jedem, der die wechselseitige Persilscheinpolitik zwischen der Bundesrepublik und dem Staat Israel nicht mitmacht, dem wird mitgeteilt, dass er hier nichts verloren hat. Klappt einfach nicht. »Die passen nicht zu uns« – und das, obwohl die Vorfahren dieser Menschen mit Migrationsgeschichte denkbar wenig mit der deutschen Schuld zu tun haben. Das ist so absurd und widersinnig. Das frustriert und macht müde, so dass viele einfach gehen wollen.

»Was ist deine Heimat?« frage ich den zehnjährigen Jungen aus dem Berliner Jugendhaus, in dem ich als Honorarkraft arbeite. »Falestin«, kommt es wie aus der Pistole geschossen, obwohl ich genau weiß, dass er noch nicht einmal weiß, woher seine Großeltern genau stammen. »Was ist mit Berlin?« hake ich nach, weil ich genau weiß, dass er noch niemals in Palästina war und dass wahrscheinlich auch seine Eltern Palästina nur vom Hörensagen kennen. Berlin, das ist doch was Handfestes. Berlin, Kreuzberg, den Mehringplatz, das kann man doch anfassen. Hier sind sie geboren, hier sind sie zu Hause. Das muss doch Heimat sein, also: »Was ist mit Berlin? Was ist mit Kreuzberg? Ist das nicht eure Heimat?« Doch alles, was ich ernte, ist ein verächtliches »Pffffff!«, Gelächter und abwertende Handbewegungen. Berlin ist nicht mehr ihre Heimat. Deutschland schon zweimal nicht. Wenn die Kinder unterwegs sind und wieder einmal nicht in die Kletterhalle dürfen, obwohl sie angemeldet waren, dann erzählen sie von den »Deutschen«, die da an der Kasse saßen. Sie selbst sind selbstverständlich auch Deutsche und haben einen deutschen Pass. »Ausländer« sind die syrischen Geflüchteten, die in den vergangenen Jahren gekommen sind. Die, die essen wie die Hayvans, aber wenn sie draußen sind, außerhalb ihrer gewohnten Umgebung. In einem anderen Stadtteil, in einer anderen Stadt oder im »Tropical Island«, dann treffen sie dort auf die richtigen Deutschen, auf die deutschen Deutschen, und von denen ist nichts Gutes zu erwarten. Meistens in jedem Fall, und seit den Ereignissen vom 7. Oktober erst recht nicht. Seitdem ist es offiziell. Sie gehören nicht zu Deutschland, und das wurde ihnen auch unmissverständlich mitgeteilt. Deshalb haben sie Überlebensstrategien entwickelt, die aus Versteckspiel und Parallel­strukturen besteht.

»Mein Lehrer will immer über Israel und Palästina sprechen«, sagt Ahmad. »Mach das nicht«, sagt Nadim. »Sag ihm, du hast keine Meinung dazu.« Die Kommunikation ist gestört. Die Kids wissen ganz genau, was sie sagen dürfen und was nicht. Die vergangenen Monate voller Sprechverbote und Repression haben in ihren Familien Spuren hinterlassen. Propalästinensiche Sympathibekundungen wurden in die Nähe der Hamas gerückt. Wer den Genozid an der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen als Genozid bezeichnet, ist ein Antisemit. Symbole der palästinensischen Identität wurden per Dekret der obersten Schulbehörde in Berlin verboten. Die Sonnenallee war wochenlang, und ist es bis heute, belagert von Polizeieinheiten, die auch nicht davor zurückschreckten, Minderjährige festzunehmen. Das prägt. Das hinterlässt Spuren. Das Vertrauen in die deutschen Behörden, Institutionen und ihre Repräsentanten, das innerhalb der migrantischen Gemeinde ohnehin nicht besonders ausgeprägt war, scheint nun ganz verschwunden zu sein. Die »Deutschen« sind komisch. Sie wollen immer so gerecht sein, aber wenn es um das Leid der Palästinenser geht, sind sie blind. Ja schlimmer noch: Die Deutschen verhindern sogar, dass man das Leid der Palästinenser benennt, und verfolgen diejenigen, die dieses Leid beim Namen nennen, und werfen ihnen Antisemitismus vor. Obwohl es doch genau diese Deutschen waren, die sechs Millionen Juden umgebracht haben, und eben nicht die Palästinenser, die nun unter den Folgen von zwei Weltkriegen und der Schoah zu leiden haben. Wie ungerecht kann die Welt sein? Wie ungehört muss sich eine Bevölkerungsgruppe fühlen, die hierzulande eigentlich zu Hause sein könnte, der aber immer wieder mitgeteilt wird, dass sie hier nur zu Gast ist und gerne gehen kann, wenn sie sich nicht an die selbstgerechten und willkürlichen Regeln der Gastgeber hält.

Müde von der Anstrengung

»Ich überlege wirklich ernsthaft, auszuwandern. Sobald ich auch nur ein bisschen Geld habe, bin ich weg. In diesem Land hält mich nichts mehr«, sagt Mohamed, und die Frustration ist ihm anzusehen. Er, der sich sowieso immer nur als Fremdkörper in diesem Land gefühlt hat und dem auch immer wieder dieses Gefühl gegeben wurde, ihm, der angestarrt wird auf der Straße, der sich erst mal beweisen muss, sobald er seinen Namen nennt, er, der immer schon erlebt hat, dass die Leute von ihm abrücken, sobald er eine U-Bahn betritt, wegen seiner schwarzen Haare, des Vollbarts, der Locken und der braunen Augen – er, der sich in den vergangenen Jahren reingearbeitet hat in die deutsche Gesellschaft, der ein Buch geschrieben hat über Identität, Clans und Migrationsgeschichten, er, der mit diesem Buch Brücken bauen wollte, mit diesem Buch, das einen sehr versöhnlichen Abschluss hat und in dem es um Dialog und Austausch, um Anerkennung und Wertschätzung geht – er ist müde von der ganzen Anstrengung. Nicht von der Anstrengung an sich, sondern von der Aussichtslosigkeit der Anstrengung. Vier Jahre hat er mit mir zusammen an einem Buch gearbeitet, das die Leute zusammenbringen sollte. Das Verständnis für die jeweilige Geschichte und die Geschichten der anderen entstehen lassen sollte. Vier Jahre, in denen ein erfolgreicher Podcast entstand und er wirklich das Gefühl hatte: Ja, da geht etwas voran, ein Miteinander ist möglich. Er ist ausgebrannt. Als Schauspieler ist er in sogenannten progressiven Kreisen unterwegs. Auf den Instagram-Profilen seiner Follower wimmelt es von Regenbogenflaggen und »FCK AFD«-Stickern. Aufgeschlossen. Divers. Antirassistisch. You name it. Doch was er sich in den vergangenen Monaten anhören musste, das machte ihn mürbe. »Das kann man so nicht sagen, das ist kompliziert.« »Das darf man nicht sagen, es gibt Opfer auf beiden Seiten.« »Sag das nicht, wenn du deine Karriere nicht gefährden willst.« Oder ganz direkt: »Dann geh doch, wenn es dir hier nicht passt.« Manchmal kam es ihm so vor, als hätte man ihn zeitversetzt und er wäre wieder in der Grundschule, als die Lehrerin nach den Anschlägen auf das World Trade Center in die Klasse kam und ihn mit ihren Blicken fixierte. »Auch diese Leute hatten eine Familie«, sagte die Lehrerin damals und schaute dabei die ganze Zeit auf ihn. »Auch diese Leute hatten Familien und Kinder, die um sie trauern, Mohamed«, und blickte dabei auf ihn, als würde er Verantwortung dafür tragen, dass ein paar saudische Terroristen einen Anschlag verübt hatten. Als müsste er nun vor die Klasse treten und Abbitte dafür leisten oder sich zumindest öffentlich und glaubwürdig davon distanzieren.

»Distanzieren!« – das ist doch das Mindeste, was man verlangen kann, tönt es auch heute im deutschen Mainstream, und selbst Vizekanzler Habeck betonte in seiner Tik-Tok-Ansprache, dass sich einige der Gäste nicht schnell und ausreichend und nachdrücklich genug distanziert hätten. Wovon eigentlich? Von einem schrecklichen Terrorakt, den keiner, den ich kenne, richtig und gut fand. Distanzieren von einer radikalislamistischen Organisation, die keiner leiden kann. Natürlich würde man das auch öffentlich verurteilen, schon allein als Mensch, wenn man nicht gleichzeitig das Gefühl haben müsste, dass diese Distanzierung dann zugleich dafür benutzt wird, um den Protest der Palästinenser zu delegitimieren und das zu rechtfertigen, was danach kam: den Rachefeldzug der israelischen Regierung, mit all den Bildern, die man aufgrund der deutschen Staatsraison »auszuhalten« hat.

Es ist diese Scheinheiligkeit der deutschen Politik und des linksliberalen Milieus, das sich so gerne vom rassistischen Pöbel abgrenzt, die so viele gerade heimatlos macht. Ich habe keine Idee, wie man das wieder kitten kann.

Marcus Staiger ist Publi­zist, Aktivist und Autor. 1971 in Süddeutschland geboren, zog er nach dem Abitur nach Berlin und hielt sich mit Gelegenheitsjobs als Koch, Leiharbeiter und Journalist über Wasser. 1998 gründete er das Rap-Label Royalbunker, mit dem er nachhaltig die deutsche HipHop-Szene beeinflusste. Er entdeckte zahlreiche wichtige Rap-Künstlerinnen und Künstler, bevor er im Jahr 2008 für drei Jahre die Chefredaktion der Internetplattform rap.de übernahm. Seit 2011 arbeitet Staiger als Industriekletterer und Publizist, 2014 erschien sein Roman »Die Hoffnung ist ein Hundesohn« und 2022 veröffentlichte er zusammen mit Mohamed Chahrour ­»Dakhil – Inside arabische Clans« – ein Buch über arabische Großfamilien in Deutschland. Marcus Staiger ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Berlin

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