29.02.2024 / Feuilleton / Seite 10

Mensch im Konjunktiv: Alexander Grothendieck

Marc Hieronimus

Den Heutigen ist Alexander Grothendieck (1928–2014) allenfalls als irgendwann zum Mystizismus übergegangener Mathematiker geläufig. Er war Träger der Fields-Medaille und Mitglied des Bourbaki-Kollektivs (zu seiner Nützlichkeit für Sozialisten siehe Dietmar Dath an den üblichen Orten, jW). Unbekannt ist der Technologiekritiker und Aktivist dieses Namens. Grothendieck spricht von einer »imperialistischen Annexion« durch die Technologie, die das Leben des einzelnen kolonisiere und anderen Kulturen einen westlichen Lebensstil aufzwinge. Vehement lehnte er die Vorstellung ab, das neue Wissen könne im bestehenden System der Allgemeinheit nützlich gemacht werden und zeigte im Gegenteil auf, wie es bestehende Herrschaftsverhältnisse zementiert und verschärft. Für eine wirkliche Demokratisierung des Wissens müsste die Wissenschaft selbst neu orientiert – um nicht zu sagen: revolutioniert – werden, wie er 1971 zusammen mit Denis Guedj formuliert:

– Die Ziele der Wissenschaft sollten ökologisch und menschlich ausgerichtet sein: dezentrale Energieversorgung, Ernährung, »leichte« Technologien ohne oder mit geringem Ressourcenverbrauch, immer mit Blick auf den Erhalt des natürlichen Gleichgewichts.

– Es sollte nicht mehr streng zwischen rein rationalem Denken und anderen Erkenntnisformen wie Intuition, Sensibilität, Sinn für Schönheit und Harmonie, Sinn für Einheit mit und in der Natur getrennt werden, die Arbeit des Forschers wäre somit nicht mehr abgespalten von seinem sonstigen, eigentlichen Leben und Empfinden.

Die Wissenschaft sollte auch in ihrer Organisation menschlicher werden. Expertentum und Zentralisierung verschwinden, da ein jeder in seinem Bereich ein Spezialist ist oder sein kann. »Der Schwerpunkt der Forschung verlagert sich vom Labor zum Feld, zum Teich, zur Werkstatt, zur Baustelle, zum Krankenbett etc., mit einer Entfaltung der kreativen Kräfte des Volkes im Ganzen.« Denn:

– Die neue, postindustrielle Wissenschaft soll zum Entstehen einer neuen Zivilisation beitragen, in der das allen zugängliche Wissen ausschließlich dem Wohle der Menschheit dient.

Sollte, könnte, müsste.

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