27.02.2024 / Kapital & Arbeit / Seite 9

Weg vom Ressourcenfluch

Russlands Wirtschaft wächst stabil und diversifiziert sich aus der Abhängigkeit vom Rohstoffexport. Sanktionen schaden eher der EU als Moskau

Reinhard Lauterbach

Zwei Jahre nach Beginn des Ukrai­ne-Kriegs hat das Münchener Ifo-Institut eine ernüchterte Bilanz der Sanktionen gegen Russland gezogen. Die im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums erarbeitete und am vergangenen Mittwoch veröffentlichte Studie zeigt auf, dass Russland die EU-Exportbeschränkungen durch Importe über Drittländer weitgehend kompensieren konnte. Der Krieg ist offenbar zum Katalysator einer Reindustrialisierung geworden, die das Land tendenziell aus dem Einfluss des »Ressourcenfluches« herausholen könnte. Der Begriff bezeichnet die Tatsache, dass bei viel zu geringen Kosten ins Land strömender Reichtum die industrielle Entwicklung im Mutterland eher hemmt, als fördert. Schließlich ist es »bequemer«, für vorhandenes Geld fertige Produkte zu importieren, als Kosten und Risiken eigenständiger Entwicklungen aufzubringen.

Was zu Friedenszeiten gegolten haben mag, hat sich mit Russlands Übergang zu einer Kriegswirtschaft deutlich geändert. Die Autoren belegen es mit Zahlen: Die Industrieproduktion sei von Januar bis November 2023 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 7,5 Prozent gestiegen, doppelt so stark wie die gesamte russische Volkswirtschaft. Besonders deutlich seien Industrien mit hohen Anteilen an militärischer Produktion gewachsen: um 34,7 Prozent bei Computern, elektronischen und optischen Produkten, bei Transportmitteln und Ausrüstungen um 29,5 Prozent, bei metallischen Endprodukten außer Maschinen und Anlagen um 27,4 und bei elektrischen Ausrüstungen um 22,6 Prozent. Russland reindustrialisiert sich über den Hebel der Militärproduktion.

Panzer und Kampfdrohnen sind, auch wenn sie Hightechelemente enthalten, Abzug vom Reichtum der Gesellschaft, der ihren Mitgliedern nicht wirklich zugute kommt – mit einer entgegenwirkenden Besonderheit, von der noch die Rede sein soll. Bisher hat Russland seinen Krieg aus Rücklagen finanzieren können: insbesondere dem Fonds für Nationalen Wohlstand. Dessen liquide Guthaben sind zwar seit Kriegsbeginn um 36 Prozent zurückgegangen, liegen aber immer noch bei umgerechnet knapp 200 Milliarden US-Dollar. Seine in der US-Währung gehaltenen Reserven hat der Fonds schon 2021 abgestoßen, die letzten Euros im Dezember 2023. Im Moment hält er nur noch Gold und chinesische Renminbi Yuan.

Der Krieg dürfte Russland letztlich mehr kosten als diese Kontenstände ausweisen: So hat die Staatsbank es zuletzt unterlassen, den Fonds wie üblich wieder aufzufüllen, sobald die Preise für Öl das Limit von 60 US-Dollar pro Barrel übersteigen (im Moment liegen sie bei knapp 90 US-Dollar). Hier werden die Exporterlöse offenbar direkt vom Budget vereinnahmt. Es kostete einiges, als Russland zuvor bei westlichen Firmen geleaste Verkehrsflugzeuge abkaufte, als sie sich im Frühjahr 2022 aus dem Land zurückzogen. Trotzdem bemerkt die Studie, Russland habe noch nicht einmal angefangen, die innere Verschuldung in größerem Umfang zur Kriegsfinanzierung zu nutzen.

Die mit 2,9 Prozent auf den tiefsten Stand seit 1991 gesunkene Arbeitslosigkeit wird oft als Anzeichen für eine »Überhitzung« der russischen Wirtschaft gedeutet. Viele Beschäftigte sind seit Kriegsbeginn vom Dienstleistungssektor in die besser bezahlte Industrie gewechselt. Trotzdem klagen viele Rüstungsbetriebe über Fachkräftemangel und müssen daher höhere Löhne anbieten.

So auch das Militär. Der Sold beim Kriegseinsatz in der Ukraine bekträg das Vierfache des Durchschnittslohns – was man als Soldat kaum ausgeben kann. Dieses Geld kommt in den Regionen an. Aus offenen Angaben der russischen Zentralbank ermittelte das finnische »Institute for Emerging Economies«, dass die Ersparnisse der Bevölkerung im Armutsgürtel in Ostsibirien und im Nordural besonders deutlich gestiegen sind. Politisch wird dies im Westen so dargestellt, als rekrutiere Russland seine Soldaten vor allem unter Angehörigen ethnischer Minderheiten. Man kann das Argument aber auch umdrehen: Der Krieg hat die »industrielle Reservearmee« kapitalistisch nicht benutzbarer Arbeitskräfte drastisch reduziert. Es ist nichts Neues, dass sich Bewohner armer Regionen mangels Alternativen bevorzugt als Söldner bewerben. Durch den Krieg haben gerade Leute in den Armutsregionen plötzlich Geld in den Taschen, was sich volkswirtschaftlich langfristig als Nachfrage bemerkbar machen wird.

Leidtragender der EU-Sanktionen ist die EU selbst. Ihre Exporte sanktionierter Güter nach Russland sind auf zwei Prozent des Vorkriegsstandes gesunken. Für die Studienautoren beweist dies, dass die Sanktionen Direktexporte effizient unterbunden hätten. Nur, dass China als Lieferant eingesprungen ist und Russland sehr viele der zuvor aus EU-Europa importierten Güter jetzt über Hongkong, Kasachstan, Armenien und die Türkei bezieht.

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