26.02.2024 / Politisches Buch / Seite 15

Ein Gespür für Taktik

Krisen und jähe Wendungen: Der zweite Band der Edition der Briefe von Clara Zetkin liegt vor

Max Brym

Im Oktober vergangenen Jahres ist – sieben Jahre nach dem ersten Band – im Berliner Dietz-Verlag der zweite Band einer auf drei Bände angelegten Edition der Briefe Clara Zetkins aus den Jahren 1914 bis 1933 erschienen. Er umfasst unter dem Titel »Revolutionsbriefe« den Zeitraum Januar 1919 bis Dezember 1923. Herausgegeben haben ihn die Slawistin Marga Voigt, die auch schon den ersten Band betreut hatte, und der Historiker Jörn Schütrumpf.

Die 1857 geborene sozialistische Vorkämpferin für die Emanzipation der Frauen – nicht zuletzt mit der ihr nach 25 Jahren 1917 entrissenen Zeitschrift Die Gleichheit – blieb dem Marxismus treu und stand mit ihren politischen Freunden Karl Liebknecht, Franz Mehring, Leo Jogiches und Rosa Luxemburg gegen den ersten imperialistischen Weltkrieg von 1914. Nach der Niederschlagung der deutschen Revolution 1918/19 schloss sich die überzeugte Internationalistin Clara Zetkin der KPD sowie der Kommunistischen Internationale an.

Die Herausgeber, die Clara Zetkin die eigene Ablehnung der Politik der Bolschewiki mehr oder weniger subtil unterschieben, haben eine etwas andere Perspektive: Sie suggerieren, Zetkin sei ab 1921 nur deshalb weiterhin in der KPD und der Kommunistischen Internationale aktiv geblieben, um die Bolschewiki zu »mäßigen«. Und das sei die »Tragödie ihres Lebens« gewesen. Leserinnen und Leser machen sich am besten selbst ein Bild vom Inhalt der Briefe und prüfen dann, wie tragfähig diese Interpretationsleistung ist.

Die Briefe jedenfalls sind hochinteressant. Sie bieten reiches Material zu den offenen und verdeckten Auseinandersetzungen in der kommunistischen Bewegung in den Jahren der revolutionären Nachkriegskrise. Die erfahrene Politikerin Zetkin war in diesen Auseinandersetzungen alles andere als passiv. In dem Buch werden jede Menge Briefe an die Zentrale der KPD, Lenin, Trotzki, Grigori Sinowjew, Ossip Pjatnizki, Paul Levi, Wilhelm Pieck, Jacob Walcher, Heinrich Brandler, Karl Radek und andere wiedergegeben. Zetkin war Anfang der 1920er Jahre eine national und international hochangesehene Kommunistin und zudem eine Tagespolitikerin mit Grundsätzen und einem tiefen Gespür für Taktik.

Die publizierten Briefe wurden in Jahren voller spannungsreicher Krisen und jäher politischer Wendungen geschrieben. Stichworte sind der Kapp-Putsch, die Auseinandersetzungen in der KPD 1921 mit den Debatten um die sogenannte Offensivtheorie und die Märzkämpfe in Mitteldeutschland. Für Zetkin persönlich wichtig waren auch die Auseinandersetzungen um Rosa Luxemburgs Schrift »Zur russischen Revolution«, die 1922 von Paul Levi, der die KPD im Jahr zuvor verlassen hatte, veröffentlicht worden war. Zetkin beharrte darauf, dass die bei der Abfassung im Gefängnis von vielen Informationen abgeschnittene Rosa Luxemburg diese Schrift nicht veröffentlicht sehen wollte.

Dazu kommt das Krisenjahr 1923 mit dem im Spätsommer und Herbst kurzfristig angesetzten Versuch, einen »deutschen Oktober« in Szene zu setzen. In ihren Briefen zeigt sich Zetkin als unermüdliche Anhängerin der Einheitsfrontpolitik und Verfechterin von Übergangsforderungen, die die Arbeiter an den Kampf um den Sozialismus heranführen sollen.

Besonders interessant für den heutigen Leser ist natürlich auch Zetkins frühe Beschäftigung mit dem Faschismus. Sie begriff ihn als eine »äußerst gefährliche terroristische kleinbürgerliche Massenbewegung mit sozialer Demagogie«. Sie setzte auf die Einheit und »den aktiven Kampf der Arbeiterbewegung«.

Jörn Schütrumpf, Marga Voigt (Hg.): Clara Zetkin. Die Briefe 1914 bis 1933. Band 2: Die Revolutionsbriefe (1919–1923). Dietz, Berlin 2023, 736 Seiten, 49,90 Euro

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