26.02.2024 / Ansichten / Seite 8

Späte Erkenntnis

OPCW-Gutachten zu Giftgasangriff in Syrien

Karin Leukefeld

Mehr als acht Jahre hat es gedauert, bis die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) die Täter eines Chemiewaffenangriffs auf den Ort Marea im Nordwesten Syriens identifiziert haben will. »Mit großer Wahrscheinlichkeit« habe der »Islamische Staat (IS) im Irak und in der Levante« den Ort nordwestlich von Aleppo mit Senfgas angegriffen, heißt es in einer OPCW-Erklärung, die am Donnerstag in Den Haag veröffentlicht und medial beschwiegen wurde. Der Angriff soll demnach am 1. September 2015 stattgefunden haben. Der IS, international als Terrororganisation gelistet, habe Artilleriegeschosse mit Senfgas gefüllt und auf Marea gefeuert. Elf namentlich bekannte Personen hätten 2015 Symptome gezeigt, die auf Senfgas zurückzuführen seien.

Warum die Untersuchung mehr als acht Jahre gedauert hat, ist unklar. Zahlreiche westliche Medien, darunter The Guardian und der Spiegel, hatten bereits sechs Tage vor dem nun offiziell als Tatzeitpunkt genannten 1. September über einen Angriff mit Senfgas durch den IS auf Marea berichtet. Ärzte und Experten hätten bestätigt, dass Bewohner von Marea mit einer chemischen Substanz, »sehr wahrscheinlich Senfgas«, angegriffen worden seien, schrieben die beiden Medien am 26. August. Die Artilleriegeschosse seien von einem IS-Stützpunkt auf Marea gefeuert worden.

Die Aussagen der Betroffenen wiesen auf die Möglichkeit hin, dass der IS Zugang zu Chemiewaffen habe, was das Pentagon immer bestritten habe, so der Guardian. Das dürfte der Grund sein, warum die OPCW der Sache damals nicht auf den Grund ging.

Bereits im April 2014 hatte ­Seymour Hersh den Artikel »Die Rote Linie und die Rattenlinie« veröffentlicht. Darin wies der US-Journalist akribisch nach, dass vermutlich Islamisten der damals noch Nusra-Front heißenden Terrororganisation und/oder des IS bereits für den Giftgasanschlag in der Damaszener Ghuta (2013) verantwortlich waren. Eine Gruppe der Nusra-Front sei zuvor in der Türkei festgenommen worden, weil sie im Besitz von chemischem Waffenmaterial war, unter anderem für die Herstellung von Sarin. Ankara habe sie freigelassen, wenig später explodierte toxisches Gas in der Region Ghuta westlich von Damaskus, rund 1.000 Menschen starben. Nusra-Front und IS waren damals Ziehkinder der Türkei, die für den Giftgasangriff von Ghuta hätte verantwortlich gemacht werden müssen. Als NATO-Mitglied war das nicht möglich. US-Präsident Barack Obama sagte den bereits geplanten Angriff auf Syrien ab. Damaskus unterzeichnete die Chemiewaffenkonvention und übergab seine Bestände an die OPCW zur Vernichtung.

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