22.02.2024 / Ansichten / Seite 8

Antastbar

Julian Assange in London

Arnold Schölzel

Das Grundgesetz beginnt mit der Lüge »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Die Autoren hätten bei mehr Wahrhaftigkeit aus dem eine Tatsache vortäuschenden »ist« ein »soll sein« gemacht.

In der Verschwörung von mindestens drei Staaten der westlichen Wertegemeinschaft, Julian Assange zu jagen und zu ermorden, konnte die Achtung seiner Menschenwürde nie eine Rolle spielen. Als die CIA unter Michael Pompeo, den Donald Trump zum US-Außenminister machte, die Tötung Julian Assanges erörterte, schloss das den Respekt irgendeiner Rechtsregel aus und damit folgerichtig Folter ein. Das erledigten britische Minister und deren Justizapparat bis hin zu der Show, die in London am Dienstag und Mittwoch als kleinlich schikanöses, aber rechtsförmiges Verfahren ablief. Helfer für Unrechtsurteile, psychische Erniedrigung, körperliche Misshandlung und extralegale Hinrichtung sind notwendiger und nicht besonders paradoxer Bestandteil des Rechtsstaats: Vom Richter bis zum Henker handeln die Beteiligten im Auftrag des Guten, der Aufklärung, der Menschenrechte, der Demokratie und des Rechts überhaupt, weswegen sie – wie beim US-Folterprogramm der 2000er Jahre – von Zeit zu Zeit die Lizenz zum Töten ganzer Menschengruppen haben. Wer die Einrichtung von Guantanamo Bay anwies, die US-Knochenbrecheranstalten rund um den Globus von Polen bis Thailand leitete, oder dschihadistische Kopfabschneider zur bestialischen Ermordung eines unbotmäßigen Staatschefs wie Muammar Al-Ghaddafi in Marsch setzte, wird nicht juristisch belangt, sondern erhält, wie Hillary Clinton, eine Ehrung in Berlin. Ihre Frage als US-Außenministerin, »können wir diesem Typ nicht drohnen?«, sei ein Scherz gewesen, sagte sie im Wahlkampf 2016. Was sonst?

Eine derart langjährige Verfolgung Julian Assanges als Individuum ist die Ausnahme, hat ihn aber zum Symbol für westliche Heuchelei und Doppelstandards gemacht und ihn damit auch gefährlich. Zahlreiche Staaten des »globalen Südens« setzen sich seit langem für Assange ein. Dort hält sich jedoch die öffentliche Empörung in Grenzen: Sklavenhalter, die mit einer Erklärung der Menschenrechte wedeln, müssen dort nicht mehr so ernst genommen werden wie noch vor einiger Zeit. Der Umgang mit Assange seit Veröffentlichung der Videos von US-Kriegsverbrechen im Irak bestätigt das: Der gigantische Aufwand, der getrieben wird, um den Australier wegen einiger Dateien zur Strecke zu bringen, hat etwas Verzweifeltes. Selbst die muffigen Räume in London, in denen sich das Gericht versteckt hat, besagen: Das hat etwas von Verwesung – von all dem, was dem Westen als so heilig gilt, dass er sich fast geschlossen der persönlichen Verfolgung eines Einzelnen annimmt. Das wird im Gedächtnis bleiben. Zunächst aber muss Assange überleben und frei sein. Er verkörpert die Antastbarkeit von Menschenwürde und Menschenleben durch Klassenjustiz.

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